Wirtschaftsmodell Pinochet

Der Mohr aus Santiago

Die Überraschung muß groß für Pinochet gewesen sein. Jahrezehntelang ist nichts passiert, und plötzlich scheint es ihm an den Kragen zu gehen. Der Ex-Diktator und Senator auf Lebenszeit hatte schlicht verschlafen, daß sich die Machtverhältnisse geändert haben. Seine Verhaftung markiert wie kaum ein anderes politisches Ereignis den Abschluß einer Epoche: das Ende des weltweiten Siegeszugs der reinen Lehre des Neoliberalismus.

Pinochet ist nicht nur eine der letzten Symbolfiguren des Kalten Krieges, der "Doktrin der Nationalen Sicherheit" und eines pathologischen Kommunistenhasses. Unter ihm wurde Chile in den siebziger Jahren zum Testfeld für die Avantgarde der US-amerikanischen Ökonomen. Hier erhielten die Chicago-Boys um Milton Friedman die Gelegenheit, ihre Theorie von der schöpferischen Zerstörungskraft des Kapitals anzuwenden. Hier brauchten sie keine Rücksicht mehr zu nehmen. Die Hindernisse wurden von Dina und CIA mit Mord, Folter oder Exil erledigt.

So sehr der Dikator wegen seiner häßlichen Methoden auch angefeindet wurde, das Wirtschaftsmodell entwickelte sich zum regelrechten Schlager. Chile wurde zum Experimentierfeld einer neuen Wirtschaftspolitik, die anschließend auf die USA und Großbritannien übertragen wurde. Die Herrschaft der Tories in Großbritannien begann mit der brachialen Zerschlagung des Bergarbeiterstreiks von 1984. Danach folgte die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Abbau sozialer Rechte.

Das Pinochet jetzt mit einem Bein im Knast steht, war nur möglich, weil seine alten Freunde die Macht verloren haben. Mit Margaret Thatcher, der mittlerweile rostigen Lady, an der Regierung wäre kein britisches Gericht auch nur auf die Idee gekommen, seine Immunität anzuzweifeln. Heute regieren die Demokraten im Weißen Haus, Tony Blair in London. Und selbst ein britischer Handelsminister kann nun erklären, daß er kotzen müßte bei dem Gedanken, daß Pinochet, womöglich "aus humanitären Gründen", wieder entlassen werden könnte. Wer wie Pinochet den dikatorischen Kapitalismus repräsentiert, ist von gestern.

Doch daß der Schlächter von Santiago überhaupt so lange unbehelligt leben konnte - und nicht wie beispielsweise sein ehemaliger Diktatoren-Kollege Somoza in die Luft gejagt wurde -, zeigt, wie zweckmäßig seine Herrschaft funktionierte. Pinochets Terror war durchaus rational, um die neue Ordnung durchzusetzen. Das wurde auch in Washington, London und Paris so gesehen. Erst danach konnte auch die schrittweise Liberalisierung des politischen Systems erfolgen. Parteien wurden wieder zugelassen, die Zensur aufgehoben, Oppositionelle kehrten aus dem Exil zurück, Wahlen wurden durchgeführt. Seine Nachfolger durften jedoch nur unter einer Bedingung auf die Regierungsbänke: Sie mußten die Kontinuität seines wirtschaftlichen Modells garantieren.

In Chile wurde vorexerziert, wie die Ablösung funktioniert - als Heirat einer neoliberalen Ökonomie mit einer Neo-Demokratie. Das vorläufige Resultat ist ein neoliberales System, das nun auch von seinen historischen Gegnern verteidigt wird. In Tony Blairs New Labour gilt die Deregulierung der Tories als Geschäftsgrundlage. In Brasilien ist der sozialdemokratische Präsident Fernando Henrique Cardoso, der während der Militärdiktatur noch ins Exil flüchten mußte, der konsequenteste Vollstrecker der neoliberalen Ordnung.

Die alten Diktaturen haben sich in einem System rivalisierender Banden und rackets aufgelöst. Die neue Form der Zivilgesellschaft fordert andere Opfer. Als "subversiv" gilt nicht mehr die politische Opposition, sondern diejenigen, die im ökonomische System überflüssig sind. Brasilien ist das Musterbeispiel für die Modernisierung der politischen Herrschaft: In Rio und S‹o Paulo werden heutzutage mehr Menschen von Militärpolizei und Todesschwadrone erschossen als während der finstersten Zeit der Diktatur.

Pinochet, der Gründungsvater dieser furchtbaren Entwicklung, hat seine Schuldigkeit getan.