Die Abschiebung des "Volksfeinds"

Die "Polen-Aktion": Vor sechzig Jahren griff das NS-Regime erstmals zum Mittel der Zwangsausweisung von etwa 18 000 Juden aus Deutschland.

Am 28. Oktober 1938 griff das NS-Regime erstmals zum Mittel der Zwangsausweisung von etwa 18 000 Juden aus Deutschland in Richtung Polen. Diese später als "Polen-Aktion" bezeichnete Vertreibung markierte einen Wendepunkt in der bisherigen Judenpolitik des NS-Regimes.

Während sich das öffentliche Interesse in diesen Tagen fast ausschließlich auf die sogenannte "Reichskristallnacht" richtet, sind die Vorgänge um diese bis dato größte Ausweisungsaktion in der deutschen Geschichte fast völlig vergessen, von der allein in Hamburg und Schleswig-Holstein etwa 700 Menschen betroffen waren. Dabei gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen.

Spätestens seit Sommer 1938 war erkennbar, daß die zunächst vor allem auf die sogenannte "Entjudung" Deutschlands durch Auswanderung gerichtete NS-Judenpolitik nicht den gewünschten Erfolg hatte. Trotz der Nürnberger Rassengesetze und trotz zahlreicher antijüdischer Verordnungen war die jüdische Auswanderung aus Deutschland seit 1937 wieder rückläufig.

Hinzu kam, daß seit der internationalen Konferenz von Evian in der Schweiz die europäischen und überseeischen Zufluchtsländer signalisiert hatten, daß sie nicht bereit waren, ihre Grenzen weiterhin für Juden aus Deutschland zu öffnen, und zahlreiche, noch in Deutschland lebende Juden finanziell nicht in der Lage waren, ihre Auswanderung zu betreiben. Mit ausdrücklicher Billigung Hitlers sollte eine großangelegte Massenausweisung im Herbst 1938 daher eine neue Stufe der Judenpolitik einleiten und zugleich den Auswanderungsdruck auf noch in Deutschland lebenden Juden verstärken.

Am 26. Oktober 1938 verhängte der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, ein sofortiges Aufenthaltsverbot für alle jene im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Herkunft, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland ansässig waren und durch eine kurz zuvor ergangene neue Verordnung der polnischen Regierung zu staatenlosen Menschen erklärt worden waren. Während die Gestapo im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Abschiebeaktion veranlaßte und die einzelnen Maßnahmen koordinierte, lag die konkrete Durchführung bei der Schutzpolizei. In den beiden folgenden Tagen wurden sodann etwa 18 000 sogenannte "Ostjuden", gegen die die NS-Propaganda seit Jahren Front gemacht hatte, festgenommen und an die polnische Grenze gebracht.

Für den norddeutschen Raum vermittelt die Aktion ein höchst unterschiedliches Bild. Einigermaßen reibungslos gestaltete sich die Abschiebung aus der Sicht der NS-Behörden lediglich in Hamburg. Dort hatte man die Betroffenen bereits am 28. Oktober mit Gewalt zum Überqueren der Grenze gezwungen.

Ruwen Gräber erinnerte sich daran, wie er von seiner geplanten Ausweisung erfuhr: "Gegen sechs Uhr früh klingelte es. Schläfrig ging ich zur Wohnungstür. Dort stand ein Polizist. Mein erster Gedanke war: Verhaftung. Dann jedoch beruhigte ich mich, denn der Polizist war allein, ohne Begleitung von Kriminalpolizei, Gestapo etc. Ich öffnete die Tür. Der Polizist: 'Guten Morgen. Sind Sie Herr Rudolf Gräber? Gestatten Sie, daß ich näher trete?' Und dann eröffnete er mir, daß ich als Pole ausgewiesen sei. Er möchte meinen Paß haben. Ich habe ihm einfach nicht geglaubt! Das kann doch nicht sein! Ich wohne in dieser Wohnung doch ununterbrochen seit 1911."

In Kiel, wo der Anteil der "Ostjuden" an der jüdischen Bevölkerung etwa 60 Prozent betrug, wurden am 27. Oktober 1938 mindestens 130 Menschen durch die Polizei informiert, daß sie am kommenden Tag Deutschland zu verlassen hätten. Ausgenommen hiervon waren lediglich Juden, die über ein gültiges Ausreisevisum in ein Drittland verfügten. Auch 15 Schülerinnen und Schüler der erst wenige Monate zuvor eingerichteten jüdischen Volksschule befanden sich unter den Abgeschobenen. Gemeinsam mit ihren Eltern hatte man sie in Abschiebehaft genommen und versucht, sie über die Grenze nach Polen abzuschieben.

Frieda Wiesner erinnerte sich daran, daß sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern ohne Vorwarnung auf Transport in Richtung polnische Grenze geschickt worden sei. Viele Stunden habe der Zug auf einem Gleis in Frankfurt an der Oder gestanden. Wie für Frieda Wiesner endete die Bahnreise für die meisten der aus Kiel Abgeschobenen am 29. Oktober in Frankfurt an der Oder, da sich die polnische Regierung und die Grenzbehörden weigerten, die Juden über die Grenze zu lassen. Nach einigen Tagen kehrten die Betroffenen auf eigene Kosten an ihre Wohnorte zurück. Nur in Einzelfällen gelang es Juden mit Hilfe christlicher Nachbarn, sich der Abschiebung zu entziehen.

Nicht mehr zur Durchführung kam die Abschiebeaktion für die Lübecker "Ostjuden". Angesichts der Weigerung der polnischen Behörden, die Juden aufzunehmen, hatte man den am Nachmittag des 29. Oktober aus der Hansestadt abgegangenen Transport in Berlin angehalten und unter Aussetzung des Vollzugs der Anordnung nach Lübeck zurückbeordert.

Von der Vertreibung waren auch etliche jüdische Pioniere - sogenannte Chaluzim - betroffen, die sich auf dem Brüderhof des "Rauhen Hauses" bei Harksheide - einer "Hachschara" - auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Einige Chaluzim flüchteten vor der drohenden Deportation nach Dänemark, andere wurden zum polnischen Grenzort Zbaszyn (Altbentschen) gebracht. Nach drei Tagen der Unsicherheit konnten auch sie Zbaszyn wieder verlassen und nach Hamburg zurückkehren. Der Pächter des Bruderhofes holte die Jugendlichen mit seinem Auto vom Bahnhof ab und brachte sie auf den Hof zurück.

Andere hatten weniger Glück. Zu ihnen zählte der 14jährige Chaim Yechieli aus Schleswig, der zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen war, aber die polnische Staatsangehörigkeit besaß. Seit Mai 1938 bereitete er sich auf der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem bei Hannover auf eine landwirtschaftliche Tätigkeit in Palästina vor. Zusammen mit anderen polnischen Juden wurde er am 27. Oktober festgenommen und am folgenden Tag zum Bahnhof gebracht. "Wir fuhren dann ostwärts, erst durch Berlin und dann Frankfurt/Oder, bis wir vor die Grenze kamen", erinnerte er sich. "Dann kam die SS, hat uns über die Grenze ins Niemandsland getrieben, hat mit Stöcken geschlagen. Wir standen sechs Stunden zwischen den beiden Grenzen. Es gab einen Sprühregen. Und die Deutschen standen mit gezückten Revolvern auf der einen Seite und die polnischen Soldaten mit Bajonetten auf dem Gewehr auf der andern."

Chaim Yechieli und die anderen Abgeschobenen wurden schließlich auf polnischen Boden gelassen, mußten aber in Zbaszyn bleiben, wo die örtlichen Behörden ihnen auf einem Kasernengelände leerstehende ehemalige Pferdeställe zur Verfügung stellten, deren Süden notdürftig mit Stroh bedeckt waren. Die hygienischen Bedingungen dort waren katastrophal, da jegliche Voraussetzungen für eine Versorgung der über 5 000 Menschen fehlte.

Die Kollektivausweisung traf die jüdischen Organisationen nicht ganz unvorbereitet. Bereits Anfang Oktober 1938 war Bernhard (Dan) Gelbart aus Altona von der zionistischen Pionierorganisation Hechaluz nach Polen geschickt worden, um Vorbereitungen für eine für möglich gehaltene Ausweisung von Juden aus Deutschlend zu treffen. Der heute in Haifa lebende Dan Gelbart schrieb später über die Verhältnisse in dem polnischen Grenzort: "Tausende von Menschen waren im Bahnhof Zbaszyn auf der polnischen Seite der deutschpolnischen Grenze zusammengepfercht. Körper an Körper, Kopf an Kopf, dicht gedrängt wie eine Herde Vieh, die Zuflucht vor einem herannahenden Sturm sucht. Nur einen Tag vorher waren sie als Hausfrauen, Familienoberhäupter und Schulkinder in aller Ruhe noch ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen. Dann plötzlich wurden sie mit Zügen zur Grenze gebracht und bei Nacht von aufgepflanzten Bajonetten durch das Niemandsland getrieben. Die Schwachen stolperten, die Kranken fielen. Arme umklammerten verzweifelt einige wenige Habseligkeiten.

Bald nachdem sie die Bahnhofshalle erreicht hatten, ließen sich die Verzweiflung der Eltern, der Hunger der Kinder und das Leid der Kranken nicht länger unterdrücken. Bald schon konnten auch die polnischen Grenzposten das Schluchzen und Schreien nicht mehr unter Kontrolle halten, das gegen die dunklen Mauern der Bahnhofshalle anstürmte."

Es folgten harte Monate der Internierung in Zbaszyn. Ende November lokkerten die polnischen Behörden ihre Bestimmungen, so daß einige Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern interniert worden waren und Angehörige in Polen besaßen, das Lager verlassen durften. Auch Chaim Yechieli gehörte zu dieser Gruppe. Er fuhr nach Lodz und verbrachte dort mehrere Monate bei der Familie seines verstorbenen Vaters. Im April 1939 konnte er mit Hilfe der Jugend-Alija nach Palästina auswandern. In einer zweieinhalbjährigen Odyssee schließlich begleitete Dan Gelbart 1940/41 eine Gruppe von ausgewiesenen Kindern durch das besetzte Polen, das Baltikum und die Sowjetunion nach Palästina. Vielen anderen indes gelang es nicht mehr rechtzeitig vor dem deutschen Überfall, aus Polen zu fliehen. Sie wurden während der Zeit der deutschen Besatzung in die Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet.

Zu den mit Chaim Yechieli aus Hannover nach Zbaszyn ausgewiesenen Juden zählte auch das Ehepaar Grynszpan. Etwa eine Woche nach der Ausweisung erschoß ihr 17jähriger Sohn Herschel aus Verzweiflung über ihre Ausweisung einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris. Dieses Attentat nahmen die Nationalsozialisten bekanntermaßen zum Anlaß, um das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland zu initiieren, die sogenannte "Reichskristallnacht".

Die größtenteils mißlungene Abschiebung der "Ostjuden" im Oktober 1938 nach Polen, die Inschutznahme der Männer in der "Kristallnacht" vierzehn Tage später, aus der nur herauskam, der sich verpflichtete, binnen der nächsten Monate aus Deutschland auszuwandern, sowie die forcierte "Arisierung" jüdischen Vermögens leiteten auch in Norddeutschland den jüdischen Massenexodus ein. Etwa die Hälfte aller hier noch lebenden Juden verließ in den wenigen Monaten bis Kriegsbeginn ihre Heimat. Die Emigration - etwa in Richtung Shanghai, aber auch nach Holland und Belgien - trug jetzt unverkennbar Zeichen der Flucht. Moshe Zimmermann hat daher zu Recht von einer "Fluchtauswanderung" gesprochen.

Parallel zum Massenexodus der jüdischen Bevölkerung bemühten sich

die Behörden weiterhin, die noch in Deutschland verbliebenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit sowie staatenlose Juden über die grüne Grenze abzuschieben, nachdem am 11. Mai 1939 für diese Gruppe ein Aufenthaltsverbot in Deutschland erlassen worden war. Die Gestapo-Stellen an der deutschen Ostgrenze meldeten allerdings unisono, daß ein "illegaler Abschub" im Bereich ihrer Dienststellen derzeit nicht möglich sei.

Am 8. Juli 1939 beantragte daher etwa der Lübecker Polizeipräsident beim Berliner Gestapoamt, die Betreffenden zur Abschiebehaft in ein Konzentrationslager zu überführen. Angesichts der Überfüllung der Lager und des Kriegsbeginns kam es hierzu allerdings zunächst nicht. Exemplarisch kündigte sich die spätere "Endlösung" an: Man wurde die propagandistisch als "Volksfeinde" und "Parasiten" am Volkskörper" diskriminierten Juden nicht los, deren man sich durch Auswanderung und Abschiebung zu entledigen hoffte. In diesem Sinne bildete die "Polen-Aktion" vor 60 Jahren den Auftakt für jene Politik, die ab 1941 im Holocaust endete.

Prof. Dr. Gerhard Paul ist Mitherausgeber des soeben erschienenen "Handbuchs der deutschsprachigen Emigration 1933 bis 1945", Primus-Verlag, Darmstadt 1998, 640 S., DM 128