Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Karl Kuschel macht nichts und das in Gifhorn

Wo ich gerade bin? Zu Hause, Wohnzimmer. Lederhose an, Zuckerwasserscheitel, bin ja erst neun.

Sparwasser locht ein, Papa ist sauer. Als Soldat hängt ihm die DDR zum Halse heraus, den Cuba-Schreck (Raketenlieferung aus Moskau) hat er noch in den Knochen. Außerdem mußte er flüchten, nachts mit Oma. Denn Opa, der alte SPDler, hat auf der Stalinallee das Maul zu weit aufgerissen. Gegen das Plansoll - dafür hat er nicht sechs Jahre im Krieg als MG-Schütze gearbeitet. Papa wählt deswegen stramm CDU, und was er sonst so sagt, gefällt auch der Familie meiner Mutter nicht besonders - alter rheinischer SPD-Clan. Um die Erbschaft wird auch gerade gestritten, verdammte Sozis. Vater hat sich seinen Wohlstand ohne die Gewerkschaft verdient. Lambretta, Isetta, VW-Käfer, Küchenmaschine. Sein Held ist Ekel Alfred. Und bestimmt nicht Sparwasser.

1974, jede Postfiliale ein Terroristenplakat. Aber Deutschland (eins) ist nicht aus dem Rennen. "Wir sind Weltmeister!" Einige Tage später wird mein Vater (Trainingshose, Pantoffeln) vom Sofa aufspringen und der Mama (blondiert, toupiert) um den Hals fallen. Jetzt gibt's Eckes Edelkirsch. Am Stoff bleiben sie die nächsten Jahre. Morgens um neun wird Mama Korn aus ausgespülten Senfgläsern trinken. Wenn ich mittags aus der Schule komme, werde ich sie von der Toilette ziehen. Wo sie reingekotzt haben wird.

Die Kinder von Trinkern werden auch Trinker. Mit 32 werde ich ein ordentliches Alkoholproblem haben. Das fällt mir und meiner Freundin am 22. Juni 1997, exakt 23 Jahre nach dem Sparwasser-Tor, auf. Wir sitzen in der Küche, als ich die Literflasche Pastis aussaufe. Und den Portwein. Jetzt bin ich in der Psycho-Therapie von Frau Scholz.

Das Sparwasser-Tor bleibt aber auch sonst nicht folgenlos. Erstens dreht mein Vater mir ein Akkordeon an und einen Musiklehrer. Zweitens trete ich in den Fußballverein ein, 1. FC Hardtberg. Die haben feldwebelartige Trainer. Wie den Herrn Lang. Immerhin: Ich darf mal mit Bodo Illgner trainieren. Der Herr Lang wird mich nach fünf Jahren endgültig rausgemobbt haben. Hat aber selbst auch kein Glück: Seine Frau verläßt ihn wegen einem Penner, Tochter Petra landet bei den Sanyassins. Herr Lang wird zum einsamen, unglücklichen Menschen.

1974 haben die Fußballer Frisuren wie Rockmusiker. "Der Breitner, dieser Affe", regt sich mein Vater auf. Auch meine Haare werden wachsen, das sind vielleicht Kämpfe. Aber mir geht es noch gut. Schwester Birgit werden jeden Morgen die Hexen rausgebürstet. Mit verweinten Augen geht das Mädchen in die Schule. Einen Tag, nachdem Sparwasser das Tor geschossen hat. Für Fußi hat sie wenig Interesse. Aber ich, ich ich! Ich soll ein genialer Linksaußen werden, Tempo elfnull auf hundert Meter, einem Schuß mit Bombendurchschlagskraft, zwei Bänderrissen, kaputter Bandscheibe und Psyche. Ich werde zwar nie mehr einen Verein von innen sehen, aber der Star der Bunten Liga werden. Oje, wenn ich doch schon als kleiner Junge die richtige Einstellung zum Fußball gehabt hätte. Ich wäre bestimmt weit gekommen. Oder, wie der Herr Sparwasser, zur WM. Fußball ist kein Kraftsport, das hat mehr mit Ballett und Tanz zu tun. Das muß man früh begreifen. Sonst endet man wie Herr Lang. Oder du oder ich.