Für eine neue Bewegung!

Nicht Theorie, sondern die Wut über die Verhältnisse mobilisiert die Anti-EU / WWG-Kampagne.

"Geschichte wiederholt sich als Farce": Immer, wenn Linke längerfristig theoretisch und praktisch an einer Thematik zu arbeiten beginnen, dürfen die MahnerInnen am Wegesrand nicht fehlen. Die Worte ihrer Epistel sind altbekannt: Kampagnenpolitik, politische Rituale, Mythenbildung. Meistens handelt es sich um Ex-AktivistInnen, die sich nach Jahren der politischen Rödelei in der Rolle des Zynikers oder der Kassandra gefallen und jede neue Bewegung schon aburteilen, bevor sie sich auch nur konstituiert hat. Über die Irrungen und Wirrungen der eigenen Politphase wird dabei meist großzügig hinweggesehen.

So hätte Christian Stocks größtenteils zutreffende Kritik an der Solidaritätsbewegung (Jungle World, Dossier, Nr. 45 / 98) sicher an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn er die LeserInnen hätte wissen lassen, daß sein eigenes Blatt, die iz3w, in den achtziger Jahren mit an der Spitze der linksdeutschen Anti-Israel-Kampagne gestanden hat. Statt dessen werden der neuen Bewegung politische Essentials als eherne Grundsätze um die Ohren gehauen und nicht als in den praktischen und theoretischen Kämpfen gewonnene Erfahrungen weitervermittelt.

Unverständlich nur, daß Stock die Nato-Fans der Gesellschaft für bedrohte Völker mit der Internationalismusbewegung in Verbindung bringt. Am Schluß seines Beitrags hat Stock schließlich selbst eingeräumt, daß innerhalb der Bewegung die Debatte über das, was aus der alten Internationalismusbewegung noch brauchbar ist und was verschrottet werden muß, längst intensiv geführt wird.

Gerade die MAI-Kampagne ist ein gutes Beispiel dafür. Als sich am Rande des Unistreiks im letzten Winter einige Studis mit dem MAI-Abkommen zu beschäftigen begannen, war da viel moralischer Verve im Spiel. Das Konstrukt von den "Geheimverhandlungen gegen die Menschheit" bewirkte einen Mobilisierungs- und Empörungsschub.

Doch schon nach wenigen Monaten wurden in der MAI-Kampagne intensive Debatten über die Rolle des Nationalstaats geführt, auf einem Kongreß in Bonn rechte Trittbrettfahrer vor der Tür gesetzt und auch ein Konflikt mit der nationalstaatlich argumentierenden Großmutter der Bewegung, Maria Mies, nicht gescheut. Wo sind solche Politisierungsprozesse in heutigen Zeiten schneller zu haben?

Es sind eben nicht Marx- oder Bakunin-Exegesen oder das Pauken von Wert oder Krisentheorien, wodurch bei Menschen Mobilisierungs- und Veränderungsprozesse ausgelöst werden. Es ist die Wut über die herrschenden Verhältnisse und der Wille, diese zu verändern. Natürlich existieren bürgerlich definierte Welterklärungsansätze bei fast allen, wenn sie mit der politischen Arbeit beginnen. Daß sie sich bei manchen noch nach zwanzig Jahren halten, wird dann sicher zum Problem. Doch erst die politische Praxis führt zu Erkenntnisprozessen und zur Bereitschaft, das Alltagsbewußtsein zu durchbrechen und sich auch auf theoretischem Gebiet kritisch auseinanderzusetzen.

Die heutigen PropandistInnen der reinen Theorie haben zum großen Teil selbst diese Bewegungen durchlaufen und an ihren Fehlern eifrig partizipiert, auch wenn sie es heute nicht mehr wahrhaben wollen. An Schulen, Universitäten oder wo auch immer sind die Folgen der Bewegungsflaute der letzten Jahre schon deutlich spürbar. Die Bereitschaft, sich grundsätzlich mit Staat und Kapital auseinanderzusetzen, gar eine Konfrontation mit dem Staat und seinen Apparaten einzugehen, ist kaum mehr vorhanden.

Daher könnte uns nichts Besseres passieren als eine neue Bewegung. Denn das würde implizieren, daß im politischen Diskurs eines relevanten Teils der Gesellschaft wieder linke Themen verhandelt und noch nicht politisierte Menschen angesprochen werden. Die noch in den Anfängen steckende Anti-EU/ WWG-Kampagne könnte das Zeug für eine solche Bewegung haben. Ausgemacht ist das allerdings noch längst nicht.

Vielleicht sind wir nach dem nächsten Wochenende diesbezüglich schlauer. Da soll die Berliner EU/WWG-Informationswoche mit einem Seminar zu Ende gehen. Die bisherige Planung zumindest gibt Anlaß zu Hoffnung, daß sich die Bewegung nicht in den von Stock erwähnten "Fallstricken des Internationalismus" verfängt. Für den theoretischen Background sorgt die antinationale gruppe demontage. Ihr großer Pluspunkt ist, daß sie bei aller berechtigten Kritik an der Praxis mancher Solidaritätsbewegten zu differenzieren versteht und sich nicht von internationaler Politik verabschiedet.

Ihre Zielvorstellung eines linken Kosmopolitismus könnte zu einer echten Innovation in der Linken führen. Schließlich ist der Kosmopolitismus nicht nur noch immer ein antisemitisch konnotiertes Feindbild der Rechten. Auch im Zuge der Verstaatlichung des Sozialismus unter Stalin wurden unter dem Vorwurf des Kosmopolitismus GenossInnen aus der Partei ausgeschlossen, verhaftet und nicht selten gar ermordet. Selbst heute noch wird in einer Broschüre der Antifa-AG aus Hannover gegen Kosmopolitismus gewettert.

Natürlich wird die Anti-EU/WWG-Kampagne nicht die Welt aus den Angeln heben und allen Gegenbeteuerungen zum Trotz wird sie nach Gipfelende ins Sommerloch fallen. Sie könnte aber dazu beitragen, daß einige gute Aktionen laufen, einige Tausend Menschen neu politisiert wurden, einige auch noch später brauchbare Broschüren und Bücher verfaßt werden.

Und nicht zu vergessen: Der Restlinken könnte wieder stärker ins Bewußtsein gerückt werden, daß die "Verdammten der Erde" überwiegend in Afrika, Asien und Amerika leben und ein linker Aufbruch ohne internationalistische Praxis nicht denkbar ist.