Notopfer für die Pharmalobby

Auch unter der neuen Regierung bleibt Pflege in erster Linie soziale Kontrolle

Die Krankenschwester kam zu spät: Als sie das Badezimmer in dem Hamburger Behinderten-Heim betrat, lebte die Frau schon nicht mehr. Die Wiederbelebungsversuche halfen nichts; die Bewohnerin war in der Badewanne ertrunken. Wie immer in den vergangenen Monaten war die Station im Haus der Stiftung Alsterdorf unterbesetzt gewesen.

Für etliche der 3 200 Beschäftigten der größten norddeutschen Behinderten-Einrichtung steht außer Frage, daß sich dieser Vorfall von Anfang Oktober jederzeit wiederholen kann. Denn wegen fehlenden Personals ist selbst die Grundversorgung der behinderten Menschen in den einzelnen Wohngruppen nicht mehr gesichert.

Und die Situation spitzt sich weiter zu: So will die Anstaltsleitung zwar künftig auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten - freiwerdende

Stellen sollen aber nicht immer neu besetzt werden. Das Alsterdorf-Management kann sich in seinem Sanierungskurs bestätigt sehen: Politische Rückendeckung für diese Form des Stopfens anstaltsinterner Haushaltslöcher erhält die Stiftung vom rot-grünen Senat.

Das Hamburger Beispiel dürfte auch bundesweit Schule machen. Mit seinem Vorschlag, die Leistungen der Pflegeversicherung künftig an die "Bedürftigkeit" der Versicherten zu koppeln, geht Finanzminister Oskar Lafontaine (SPD) in dieselbe Richtung.

Das wäre eine konsequente Fortsetzung der Benachteiligungen, die die Einführung dieser Versicherung für viele Pflegeabhängige ohnehin schon bedeutete: Die Gutachterschar der Krankenkassen hat bereits in den vergangenen Jahren damit begonnen, behinderte Personen, die zuvor noch staatliches Pflegegeld bezogen hatten, zu beinahe hilfsunabhängigen Menschen umzuschreiben. In der Pflegekasse des Bundes häufte sich dadurch ein Guthaben in Millionenhöhe an.

Wenn die Unterstützung, wie von Rot-Grün geplant, an eine wie auch immer definierte "Bedürftigkeit" gebunden wird, dann werden behinderte und alte Menschen auch in Zukunft teilweise oder ganz von den Leistungen der Pflegeversicherung ausgeschlossen bleiben.

Laut Koalitionsvertrag will die neue Regierung der "Gesundheitsförderung, Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation" einen "hohen Rang" einräumen. Das wollte die alte Kohl-Riege auch. Durchgesetzt hat sich dabei ein Leistungsgedanke, der körperliche Fitness zum Ideal erhebt und Krankheit als individuelles Versagen abhakt. Prävention - übersetzt als Vorbeuge oder Vorsorge - ist zwar auf den ersten Blick ein vernünftiger Ansatz, mit dem ein aktives Eingreifen in Verhältnisse und Verhalten zu rechtfertigen wäre. Doch konkurrieren bereits medizinische und sozialwissenschaftliche Präventionsansätze miteinander: Während letztere auf den mündigen Bürger setzen, auf gesellschaftliche Reformen mit entsprechenden Veränderungen in der Arbeits- und Umwelt-, in der Gesundheits- und Sozialpolitik, wird durch das faktisch bestehende medizinische Präventionsmodell Krankheit individualisiert, der Mensch zum Objekt degradiert, dessen "natürliche" Anlagen es zu entschlüssen gilt.

Daß auch Rot-Grün keine relevanten Änderungen an diesem Modell plant, beweist die Koalitionsvereinbarung: Vor der ersten Lesung des "Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung" kündigte Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnisgrüne) am Wochenende zudem an, die Zuzahlung für Medikamente zu vermindern und die Härtefallregelung für chronisch Kranke zu verbessern. Bei der Finanzierung hält sie jedoch am Kurs ihres Vorgängers Horst Seehofer (CSU) fest. So wie Fischer nun die Ausgaben der einzelnen Gesundheitssektoren für 1999 mittels Budgets begrenzen will, hatte zuvor Seehofer mit einer ähnlichen Regelung Ärzte und Ärztinnen an die Kandare zu nehmen versucht - gegen deren starke Interessenverbände konnte er sich aber nicht durchsetzen.

Proteste lösten die Pläne bei Ärzten und Pharmaverbänden aus: Anstelle des von Fischer vorgeschlagenen Globalbudgets zur Kostensenkung bevorzugen sie ein Modell, in dem die Kassen-Leistungen auf das medizinisch Notwendige beschränkt werden. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) bezeichnete es als "grotesk", das Arzneibudget von 1996 als Bemessungsgröße zu nehmen.

Ärzte und Pharmaindustrie bangen um den Verlust ihrer Privilegien: Dabei ist die Medizin längst eine Institution sozialer Kontrolle geworden. Wer sich angepaßt verhält, bekommt finanzielle und materielle Unterstützung zugesprochen. Der gutachtende Arzt oder die attestierende Ärztin bestimmt über den weiteren Lebensweg; nach immer neu zu gestaltenden Kriterien werden die Patienten hierarchisiert in förderungswürdige und solche, bei denen der zu betreibende Aufwand sich nicht mehr lohnen soll.

An dieser Struktur ändern auch die von der Koalition beschlossene Senkung der Zuzahlung bei Medikamenten oder die Abschaffung des "Notopfers Krankenhaus" nichts. Und das selbstgesteckte Ziel, mit einer Reform ab dem Jahr 2000 "für mehr Wettbewerb um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen" zu sorgen, erinnert mehr an die Leistungsschau eines Autokonzerns als an eine an den sozialen Grundsätzen und den Patientenbedürfnissen orientierten Politik.

Zwar ist absehbar, daß in der neuen Regierung öfter von der "Würde des Menschen" und der "Integration in das Alltagsleben die Rede" sein wird - "Haushaltsvorbehalte" aber werden solche Ansätze regelmäßig zum Scheitern bringen. In den Mittelpunkt der gesundheitspolitschen Debatte dürften deshalb eher ethische Fragen rücken: Die Zukunftsindustrien im Gen- und Biotechnologiebereich sollen schließlich auch von Rot-Grün nicht mit Moratorien oder Verboten belästigt werden.