Wichtiger als richtiges Leben

St. Pauli ist pleite und seit dem Rücktritt mehrerer Vorstandsmitglieder nicht mehr handlungsfähig. Nun marschiert die legale Fraktion der linken Fans durch die Gremien

Eklatante Verletzung von Liberalität und Fairneß! Eine Minderheit von Profilneurotikern und Chaoten zwingt der schweigenden Mehrheit autoritär ihren Willen auf! So jammerten und schimpften in der Nacht zum 31. Oktober altgediente Mitglieder des Hamburger Fußballclubs St. Pauli. Anlaß der Tiraden war die Mitgliederversammlung, in der "Polemik, wenn nicht blanker Haß zum Vorschein" kam, wie das sonst eher zurückhaltende Hamburger Abendblatt später indigniert meldete. Die autoritäre, unfaire und undemokratische Minderheit waren die 133 Mitglieder, die gegen die schweigende Mehrheit ihrer 72 Vereinskameraden für den Antrag gestimmt hatten, das Wilhelm-Koch-Stadion in "Stadion am Millerntor" umzubenennen. Bereits vor einem Jahr hatte diese geplante Umbenennung zu Tumulten bei einer Mitgliederversammlung geführt. Damals wurde dem Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Apel die Diskussionsleitung entzogen, weil dieser sich angesichts linker Chaoten, die den verdienten Paulianer Wilhelm Koch verunglimpften, hatte aus der Contenance bringen lassen. (Koch war von 1931 bis 1945 und von 1947 bis 1969 Präsident und Mäzen des Vereins, erfolgreicher Geschäftsmann und Mitglied der NSDAP gewesen.) Man beauftragte schließlich eine Historikerkommission damit, die braune Vergangenheit Kochs aufzuhellen.

Der neue Streit entzündete sich nun am Ergebnis der Studie. Koch sei Mitläufer gewesen und habe nicht nachweislich von den nationalsozialistischen Rassengesetzen profitiert, berichtet der Historiker Frank Bajohr. Für die alten Paulianer um den ehemaligen Verteidigungsminister Hans Apel war das Anlaß genug, den Stadionnamen beibehalten zu wollen, während die eher jüngeren Mitglieder der Ansicht von René Martens waren, der mit seinem St. Pauli-Buch den Anstoß zur Koch-Diskussion gegeben hatte. Dort schreibt er: "Überfällig ist ein neuer Name allemal. Daß ein Stadion, in dem rechtsradikale Äußerungen vorbildlich mit Hausverbot geahndet werden, benannt ist nach einem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Nutznießer der Nazi-Politik - das ist ja nun wirklich grotesk." Apel jedoch haderte mit der Entscheidung: "Wenn die Stadionumbenennung kommt, haben Sie endlich freie Bahn, um den Verein zu ruinieren", giftete er und trat vom Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden zurück. Wahrscheinlich wäre das unwürdige Spektakel zu vermeiden gewesen, hätte nicht ausgerechnet Kochs mittelbarer Nachfolger als Mäzen und Präsident, Heinz Weisener, die Empfehlung der Historikerkommission, das Stadion umzubenennen, unterdrückt. So richtig pikant wird die Geschichte jedoch erst angesichts der Altherrenfeindschaft zwischen Apel (66) und Weisener (70). Weisener mochte Apel nie recht leiden, weil der des Patriarchen feudale Art der Vereinsführung regelmäßig kritisiert hatte. In einem Artikel für das Hamburger Abendblatt warf Apel Weisener vor kurzem sogar einen "klaren Satzungsverstoß" vor. Der Präsident habe ohne Genehmigung des Aufsichtsrates die Personalkosten im laufenden Geschäftsjahr um 1,3 Millionen DM erhöht und sei überdies für die 3,8 Millionen Schulden des Clubs haftbar zu machen. Als oberster Kontrolleur hätte Apel angesichts der desolaten Finanzsituation des Vereins jedoch sehr viel früher handeln müssen; daß er bereits im Frühjahr Bescheid wußte, gilt als sicher. Sein Versuch, die Schuld für die Schulden dem ehemaligen Schatzmeister Niewiecki anzulasten, schlug fehl, weil Niewiecki mit Hilfe seines Anwaltes Wolfgang Klein konterte.

"Wenn Herr Apel meint, er sei hinters Licht geführt worden", so der ehemalige HSV-Präsident Klein, "muß er das Licht mal anschalten." In diesem Licht könnte die Stadionumbenennung für Apel auch ein willkommener Vorwand gewesen sein, das sinkende Schiff zu verlassen. Das taten dann auch gleich drei weitere Mitglieder des siebenköpfigen Aufsichtsrates. Dieser ist damit handlungsunfähig. Vizepräsident Robert Ahrens, von Beruf Wirtschaftsprüfer, gab ebenfalls seinen Posten auf. Im Finanz-Gutachten heißt es immerhin: "Aus diesen Unterlagen kann eine Fortführung der Vereinstätigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit abgeleitet werden." Im Klartext: Der Verein ist pleite. Was aber taten in all dem Durcheinander die Guten? Die Linken und Autonomen und Unabhängigen und wahren Fußballfreunde? Weiter auf den Patriarchen Weisener ("Papa") vertrauen, den letzten Mäzen des Profifußballs, den letzten Feudalherrn im längst radikal neoliberalen Fußballzirkus? Den Papa zum Teufel schicken und der Geschichte auf die Sprünge helfen, also Platz machen für die Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft mit echten Pofis im Vorstand und Vermarktern, die den Verein kaufen? Oder den Marsch in die authentischen Niederungen des Amateurfußballs antreten, sprich: das Profiteam abmelden und unten von vorne anfangen? Nichts von alledem tun sie, sie tun das, was die Guten, die Linken und Grünen, auch in der Politik tun, sie marschieren durch die Institutionen in die Regierungen und übernehmen Verantwortung.

So ließ sich Holger Scherf, der Sprecher der legalen Fraktion der linken Chaoten, der Arbeitsgemeinschaft interessierter Mitglieder (AGIM), in den Aufsichtsrat wählen. Bei den alten Freunden Wilhelm Kochs entschuldigte er sich für die unflätigen Worte der ungezogenen Chaoten, und nun telefoniert er Tage und Nächte verzweifelt mit den ehemaligen Aufsichtsräten, um wenigstens einen wieder zurückzuholen und den Verein wieder handlungsfähig zu machen. Das ist alles fast so wie im richtigen Leben. Aber es geht um Wichtigeres als das Leben, es geht um Fußball. Deshalb ist alles wurscht, was in Seminaren, Kneipen und Plenen diskutiert und geschworen wird. Fakt ist, daß der Papa den Club zugrunde wirtschaftet und zu Tode liebt, wie sentimentale Fans gerne erzählen. Fest steht aber auch, daß nur der Feudalherr Weisener mit seinen Millionen den Club im bezahlten Fußball halten kann. Und fest steht, daß nur der Architekt Weisener in der Lage ist, wirklich das Stadion für 35 000 Zuschauer zu bauen und zu finanzieren, das er seit Jahren den Mitgliedern verspricht und das als Voraussetzung gilt, auf lange Sicht im bezahlten Fußball bestehen zu können. So hoffen und glauben alle, Nazis und Autonome, gemeinsam auf das Wunder: daß dann 30 000 statt 12 000 Menschen Niederlagen gegen Ulm sehen wollen, bloß weil es überdachte Schalensitze und einen Catering-Service im Stadion gibt.

Nur ein paar Aufrechte sind bereit, Konsequenzen zu ziehen: Abmelden und ab ins Amateurlager, ehrlichen Fußball der Deklassierten, Gedemütigten und Beleidigten gucken. Dieses Niveau ist sowieso längst erreicht, nur kriegen die Spieler zur Zeit dafür etwa doppelt so viel Geld wie die Gegner aus Ulm, und das bei der Hälfte der Punkte. Für den wackeren Fußballfreund mit aufrechter linker Gesinnung ist das alles fast zuviel. Einige sollen in der Hoffnung auf ein ansehnliches Fußballspiel sogar schon den Sündenfall geprobt und inkognito das Volksparkstadion aufgesucht haben, in dem die Neonazis noch vor einem Jahr unbehelligt faschistische Propaganda in der Fankurve verteilen durften und rassistische Parolen achselzuckend als Jungmännerflachs hingenommen wurden. Doch kein Zweifel, auch der HSV ist im Wandel begriffen. Man will Kapitalgesellschaft werden und zur Unterstützung dieses Ziels sportlich in die europäische Spitze. Dafür läßt man inzwischen mit Yeboah und Dahlin schon einen "Neger" und einen "Halbneger" stürmen; dafür gaben Vorstand, Mannschaft, Trainer, Fanbeauftragter und Supporter sich für die Aktion "Wir sind es leid" her, in der die Beteiligten versprechen, "mit aller Härte gegen Gewalt, Rassismus und Extremismus" im Stadion vorzugehen; dafür hat man einen Kulturmanager, Theatermann und Oppositionellen (CDU-Mitglied anstelle des traditionellen Hamburger Sozifilzes) zum Nachfolger des unsäglichen Kleinbürgeridols Uwe Seeler als Präsidenten bestellt; dafür dreht man das Stadion, in dem einst Jürgen Sparwasser die alte Bundesrepublik gedemütigt hatte, um 180 Grad; dafür entfernt man braunes Gesindel, damit die Herren der Deutschen Bank in ihrer 100 000-DM-Loge sich nicht belästigt fühlen müssen. Wenn das mal keine echt Alternative für die alternativen Paulianer ist.