Eine Frage der Ehre

Der Vorstoß des französischen Premiers Lionel Jospin, 49 Deserteure des Ersten Weltkriegs zu rehabilitieren, hat eine Geschichtskontroverse ausgelöst

"Und Sie, wen würden Sie gerne rehabilitieren?" fragte das Figaro Magazine am 21. November und ließ unter dieser Überschrift ein knappes Dutzend zumeist rechter Schriftsteller antworten, von denen auch prompt einige die Gelegenheit ergriffen, sich für die Rehabilitierung von Vichy-Kollaborateuren auszusprechen. Damit reagiert das Figaro Magazine auf den Vorstoß von Premierminister Lionel Jospin, 49 im Ersten Weltkrieg "für das Exempel" hingerichteten Deserteure wieder in ihre Ehrenrechte einzusetzen (Jungle World, Nr. 46/98), und versucht, diesen Schritt lächerlich zu machen und für die eigene Propaganda zu nutzen.

Die Vorlage für eine solche schräge Geschichtsdebatte hatte bereits der Vorsitzende der Gaullistenpartei RPR, Philippe Séguin, geliefert. Séguin hatte als einer der ersten Politiker der Rechten auf Jospins Rehabilitierungsversuch für die Erschossenen von 1917 reagiert, indem er dem Parteivorsitzenden der regierenden Sozialisten, Fran ç ois Hollande, öffentlich antwortete. Hollande hatte zu Beginn der Debatte um die Äußerungen seines Parteifreunds Jospin in einem TV-Interview bedauert, "daß man es in Frankreich nicht schafft, für all das die Verantwortung zu übernehmen, was es in unserer Geschichte zugleich an Beispielen für Ruhmreiches gab, und gleichzeitig an Akten, die nicht hätten begangen werden dürfen", wobei er den Ersten Weltkrieg, das Vichy-Regime und den Algerienkrieg nannte.

Philippe Séguin erwiderte postwendend: "Fran ç ois Hollande hat uns neue kollektive Rehabilitierungen anderer Opfer der Geschichte angekündigt. Wenn es um Vichy geht, handelt es sich darum, die (französischen freiwilligen) Waffen-SS-Männer zu rehabilitieren, die Parteigänger der (Nazikollaborateure) Doriot und Déat? Was den Algerienkrieg betrifft, nehme ich an, darum, die Untergrundkämpfer zu rehabilitieren. Aber welche, die von rechts oder die von der extremen Linken?" Im selben Atemzug hatte Séguin den Sozialisten, wegen ihrer Forderung nach kritischer Neubetrachtung bestimmter Abschnitte der nationalen Geschichte, "Neorevisionismus" vorgeworfen.

Séguin hatte sich bereits im Vorjahr, anläßlich des Prozesses gegen Maurice Papon - der angeklagt war, als französischer Staatsbürokrat unter Vichy die Deporation von 1 700 Juden organisiert zu haben - als Sprachrohr jener hervorgetan, die auf die "nationale Ehre" Frankreichs nichts kommen lassen wollen. Zwei Jahre, nachdem sein RPR-Parteifreund Jacques Chirac - wenige Wochen auf seine Wahl zum Staatspräsidenten folgend - anläßlich einer Gedenkfeier für die Opfer der Vel'd'Hiv-Razzia von 1942, die Mitschuld des französischen Staatsapparats an der Judendeportation anerkannt hatte, outete sich Philippe Séguin als Verfechter der orthodox-gaullistischen Geschichtsversion.

Seiner Ansicht nach war Frankreich, ganz Frankreich, Opfer des deutschen Überfalls und befand sich anschließend an der Seite de Gaulles und der Westallierten geschlossen im Widerstand; eine französische Mitschuld konnte es für ihn demnach gar nicht geben. Gegnern dieser Sichtweise warf er auch damals Revisionismus vor.

Eigentlich hätte die Rehabilitierung der 1917 erschossenen Soldaten selbst hartgesottenen Armeefans keine Probleme bereiten müssen. Denn die damals meuternden Soldaten waren keine Gegner von Krieg und Militär. Vielmehr fanden die ersten Meutereien in Elitebataillonen statt, deren Mitglieder durchaus bereit waren, an der Front ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nicht aber, sich durch offenkundig sinnlose Befehle verheizen zu lassen.

Im April 1917 hatte General Nivelle im Stellungskrieg der Schützengräben eine Offensive befohlen, welche die Linien der kämpfenden Parteien um keinen Meter verrückte, aber 250 000 Soldaten das Leben kostete. Als Reaktion darauf hatten Soldaten der Infanterie zu meutern begonnen, die, so der Historiker Albert Londres, "bereit waren zu sterben, aber nicht bereit waren zum Selbstmord".

Ein Angehöriger eines damals erschossenen Soldaten konnte aus Anlaß der jüngsten Debatte immerhin in den 20 Uhr-Nachrichten des öffentlichen Fernsehens sagen, General Nivelle sei es, der damals die Kugel verdient gehabt hätte.

Auf 30 000 bis 40 000 wird die Zahl der Soldaten geschätzt, die die Befehle verweigerten, meuterten oder desertierten. Erst im Verlauf der Meuterei wurden auch Sympathien für die russische Revolution, deren erster Akt im Februar 1917 begonnen hatte, geäußert. 49 Soldaten wurden schließlich erschossen, um "ein Exempel zu statuieren" - ihnen gilt der jüngste Rehabilitierungsvorschlag durch Jospin. Hunderte weitere Soldaten wurden zu insgesamt 1 400 Jahre Zwangsarbeit verurteilt, das hieß: Steineklopfen in der algerischen Wüste. Der Mann, der im Juni 1917 die Erschießung der 49 anordnen ließ, war kein anderer als Philippe Pétain, der spätere Kopf des Vichy-Kollaborationsregimes.

Die Ereignisse im Ersten Weltkrieg waren bis vor kurzem ein Tabuthema, dies aus zwei Gründen: Zum einen darf man nicht vergessen, daß der Erste Weltkrieg für Frankreich einen tieferen Einschnitt darstellt als für das damalige Deutsche Reich, das den Krieg fernab seines Staatsgebiets führte. Zum zweiten hatte diese historische Ausgangslage in der Zwischenkriegszeit zur Folge, daß eine pazifistische Grundströmung in den dreißiger Jahren von links bis rechts fast zum politischen Allgemeingut geworden war, welche die französische Politik für die von Hitlerdeutschland ausgehenden Gefahren blind machte.

Auch daher rührt die breite Zustimmung zum Münchener Abkommen 1938: Infolge des nazideutschen Überfalls und der Besetzung ganz Frankreichs war es dem Gaullismus nach 1944 leichtgefallen, die gesamte französische Nationalgeschichte mit einem Tabu zu belegen, das verhinderte, Frankreichs Rolle in Frage zu stellen oder zwischen den unterschiedlichen Ausgangssituationen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zu differenzieren.

Die Wirkungsmacht dieses Tabus läßt sich u.a. daran ablesen, daß über 18 Jahre hinweg, zwischen 1958 bis 1976, der mit dem Thema Gehorsamsverweigerung befaßte Film "Sentiers de la gloire" ("Pfade des Ruhms") von Stanley Kubrick in Frankreich von der Zensur unterdrückt wurde. Nachdem der Film zunächst in Brüssel gezeigt worden war, übte das französische Außenministerium Druck aus, um den Film auch in Belgien verbieten zu lassen - allerdings vergeblich. Und erst in jüngerer Zeit konnte in Filmen wie "Capitaine Conan" von Bertrand Tavernier (1996) und "Le Pantalon" von Yves Boisset Kritik an der inneren Verfaßtheit der französischen Armee zwischen 1914 und 1918 geübt werden.

Teile der Gaullisten werfen Jospin nun Vaterlandsverrat vor - so die ihnen nahestehende Studentenorganisation Uni: "Jospin, seiner ursprünglichen trotzkistischen Ausbildung treu bleibend, verkörpert den Geist der Preisgabe und des Verzichts." Moderater fiel hingegen die Reaktion seitens des liberalkonservativen Parteiebündnisses UDF aus; der christdemokratische Präsident der UDF, Fran ç ois Bayrou, erklärte beispielsweise, man dürfe "keine Polemik von heute mit den Dramen von gestern betreiben. Man muß die Historiker sich mit der Geschichte befassen lassen, die weder völlig schwarz noch völlig weiß ist."

Der den Reihen der Liberalkonservativen entstammende frühere Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing sah die Erklärung des Premierministers als "gerechtfertigt" an, wenngleich er hinzufügte: "Wenn es eine allgemeine Revolte der französischen Soldaten gegeben hätte, dann hätten wir den Krieg von 1914 verloren." Die unterschiedlichen Reaktionen der beiden großen bürgerlichen Kräfte erklärt sich daraus, daß für das weitgehend auf die Wahrnehmung seiner wirtschaftlichen Interessen konzentrierte Bürgertum, das den Hauptanteil der UDF-Klientel bildet, der Patriotismus von geringerer Bedeutung ist als für das kleinbürgerliche klassenübergreifende Bündnis, das die Gaullisten historisch unter der Fahne des nationalen Behauptungskampfs sammeln konnten.

Und nicht zuletzt hat auch die überwiegend pro-europäische Orientierung der UDF-Parteigänger mit deren Desinteresse am Image der Nation im Ersten Weltkrieg zu tun: Wer heute als Verfechter des EU-Projekts in der ersten Reihe sitzen will, interessiert sich weniger für die Schlachten von vorgestern, in denen sich Deutsche und Franzosen in den Schützengräben gegenüberlagen, als die nationalstaatsfixierten Kritiker des EU-Projekts, zu denen Séguin (und mit ihm die Mehrheit der RPR-Gaullisten) gehört.

Als Verbündete in dieser Frage bleiben den "klassischen" Gaullisten noch die Rechtsextremen, die Teile des gaullistischen Patriotismus übernommen haben, freilich, um ihn mit antisemitischen, faschistoiden Inhalten zu füllen, die der originäre Gaullismus nicht aufweist. Bruno Mégret, Ende der siebziger Jahre Mitglied der RPR-Parteiführung und heute Generalsekretär des Front National, urteilt über die Angelegenheit klipp und klar: Die Erklärung des Premierministers sei "skandalös, weil sie jene, die ihre Pflicht nicht erfüllt haben, und jene, die ihre Pflichten erfüllt haben, auf eine Stufe stellt". Diese Darstellung dürfte auch manchem gaullistischen Politiker aus dem Herzen gesprochen sein.

Mit einem antisemitischen Blut- und- Boden-Leitartikel antwortete National Hebdo, die Parteizeitung der französischen Neofaschisten, auf die Debatte: "Die Rechte ehrt die Toten, weil diese sie daran erinnern, daß die Erde und das Blut, Generation auf Generation, neues Leben hervorbringen: die Geschichte und das Gedenken lehren sie das Leben. Die Linke hingegen ist vom Tod fasziniert. Euthanasie, Abtreibung, alles an ihren 'gesellschaftlichen Projekten' manifestiert diese Besessenheit vom Ende, vom Bruch, vom Nichts. (...) Unser Reiter des Todes mit den Zombieaugen (Jospin; B.S.) zeigt seine Besessenheit mit der Litanei zum Gedenken an die Meuterer von 1917. Daß er Revisionismus betreibt - warum nicht? Aber es gibt so viele Ereignisse in der Geschichte der Welt und Frankreichs. Warum dieses Detail auswählen, wenn nicht deswegen, weil es den Kampf zahlloser Patrioten diskreditiert und so dazu beiträgt, das Nationalgefühl abzutöten? Darum geht es im Grunde, um die tödliche Besessenheit der Linken in diesem fin de siècle: nach und nach das französische Volk auszulöschen und in ihm das Gefühl zu ersticken, daß es noch am Leben ist." (Die Formulierung "warum dieses Detail" dürfte mit Bedacht gewählt worden sein - als zynische Anspielung auf Le Pens Aussage, die Gaskammern seien lediglich ein "Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs".)

Gegen diese Abwehrfront auf der Rechten standen die Linksparteien größtenteils hinter Jospin zusammen, der seinen Vorstoß vom 5. November lange vorbereitet hatte - seit März 1998 war nach einem geeigneten Ort und Zeitpunkt gesucht worden. Die Geste Lionel Jospins steht in der Tradition der pazifistischen oder antimilitaristischen Strömung, die nach dem Gemetzel 1918 erstarkt war und der sein Vater Robert Jospin angehört hatte.

Die KP-Tageszeitung L' Humanité, die Jospin ihre Unterstützung aussprach, interpretierte dies so: "Die Meuterei von 1917 ist eine der schönsten Seiten einer Geschichte, die dem französischen Volk Ehre bereitet (...). Die Aufrührer haben das große Buch der Revolte (...) geöffent: man findet in ihren Reihen die Widerständler gegen Vichy, die Matrosen und Hafenarbeiter, die gegen den Indochinakrieg kämpften, die Gehorsamsverweigerer und Kriegsgegner im Algerienkrieg. Und man wird im übrigen eines Tages dieses Buch wieder öffnen müssen, auf anderen Seiten als denen zwischen 1914 und 1918, und jene anerkennen müssen, die vor den anderen Recht hatten."

Ähnlich argumentierten die beiden grünen Spitzenpolitiker Dominique Voynet und Daniel Cohn-Bendit. Sie forderten ein, "jetzt weiter zu gehen und bestimmte Kapitel vor allem der Kolonialgeschichte von neuem aufzuschlagen". Die Folter in Algerien war "inakzeptabel, der dortige Krieg war inakzeptabel", erklärte Voynet. Und Cohn-Bendit forderte, die Deserteure des Algerienkriegs zu rehabilitieren, weil "es Momente gibt, in denen ein Deserteur die Ehre seines Landes" verteidigen kann.

Diese Forderung allerdings berührt ein weiteres historisches Tabu, wurde der Algerienkrieg doch erst in diesem Jahr mit der alljährlichen Gedenkfeier Anfang November als Krieg anerkannt. Bisher war stets von "Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" die Rede gewesen.