Potsdam, Sudan

In Brandenburgs Hauptstadt häufen sich rechte Straftaten, doch die Polizei kann "nicht jeden Krakeeler festnehmen"

Nachts kann Samuel M. nicht mehr ruhig schlafen, aus Angst. "Wie ein Gefangener" fühle er sich in seiner Wohnung in Kunersdorf bei Potsdam. Disco oder Besuche bei Freunden sind tabu.

Samuel M. ist eines der vielen Opfer rechter Gewalt in Brandenburg, dem Bundesland mit der höchsten Anzahl rechtsradikaler Straftaten. Seine Angst begann am Freitag, den 20. November in Potsdam, gleich neben dem S-Bahnhof, am noch im Bau befindlichen "Potsdam-Center". Im Feierabendverkehr, so sagt er, habe ein Fahrer das Fenster heruntergekurbelt und ihm aus seinem Renault heraus "Ausländerscheiße, Nigger raus" nachgerufen. M., der gerade mit einem Freund aus Großbritannien unterwegs war, sei auf das Auto zugegangen. "Was ist los, was ist das Problem?" habe er gefragt. Der Fahrer sei daraufhin aus dem Wagen gesprungen und habe ihm eine automatische Pistole an den Kopf gehalten.

Ob es sich um eine scharfe Waffe handelt, so berichtet der 28jährige Bauingenieur, habe er zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen können. Trotzdem gelang es ihm, den Angreifer zu entwaffnen und an sein Auto zu pressen. Von den Fahrern der übrigen zehn stehenden Fahrzeugen habe es keine Reaktion gegeben. "Kein Deutscher hat mir geholfen", sagt M., "die haben alle nur versucht, den sich bildenden Stau möglichst schnell zu umfahren."

Die drei Männer im Alter von 22 bis 30 Jahren aus dem Auto wurden von der per Mobiltelefon herbeigerufenen Polizei vorübergehend festgenommen, ebenso Samuel M. und sein Bekannter. Gekleidet seien die Angreifer in der landesüblichen Tracht gewesen: grüne Bomberjacke, kurze Haare. In der Schreckschußpistole, die der Fahrer nach eigenen Angaben "aus Sicherheitsgründen" stets bei sich führt, fand die Polizei später zehn Platzpatronen, die, in unmittelbarer Nähe zum Kopf abgefeuert, lebensgefährliche Verletzungen zur Folge haben können. Auch ein Messer sei sichergestellt worden. Gegen die drei Männer aus Werder bei Potsdam wird jetzt wegen Volksverhetzung und Bedrohung ermittelt. Die Polizei prüft indes auch eine andere Version. Sie sei von einem "Notruf der Autoinsassen" alarmiert worden. Eine Zeugin, die allerdings während des Vorfalls weiter weg stand, habe ausgesagt, sie habe beobachtet, wie sich junge Schwarze um ein Auto gruppiert und hineingetreten hätten, sagt Polizeisprecher Geert Piorkowsi.

Auf eine Stellungnahme der Polizei wartete man zunächst vergeblich, "wegen des hochsensiblen Themas" und der "nicht ausgeräumten Widersprüche". Erst dank der Pressekonferenz der Arbeitsgruppe (AG) Antirassismus an der Universität Potsdam wurde der Vorfall Freitag vergangener Woche öffentlich. "Die Polizei", rekapituliert der Sprecher der Initiative, Georg Meindl, habe "statt dessen einen am selben Tag begangenen Lebensmitteldiebstahl im Wert von 27,91 Mark an die Presse weitergegeben."

M. besitzt zwar eine Aufenthaltsgenehmigung, aber noch keine Arbeitserlaubnis. Von der Ausländerbehörde erhalte er monatlich 80 Mark in bar, 220 Mark in Lebensmittelmarken. Aus dem Sudan floh er wegen des andauernden Bürgerkrieges zwischen der christlichen Südlibanesischen Volksbefreiungsarmee und dem islamistischen Regime in Khartum. Brandenburg darf er nicht verlassen. Der Vorfall sei bereits seine zweite Begegnung mit rassistischer Gewalt gewesen - beim ersten Mal hätten Deutsche ihren Hund auf ihn gehetzt. Sein Freund entschied sich nach dem Vorfall dafür, seinen Urlaub in der Bundesrepublik sofort abzubrechen: "This doesn't happen in London." Jetzt will er bei der deutschen Botschaft in Großbritannien Beschwerde einreichen. Wegen "deutscher Rassisten" habe er sein Geld umsonst ausgegeben.

"Zivilcourage ist in Potsdam nicht die Regel", sagt Georg Meinl von der AG Antirassismus. Die Arbeitsgemeinschaft machte den Fall M. öffentlich, um vor zunehmenden rechten Übergriffen in der Landeshauptstadt zu warnen. Der Überfall sei der dritte in den letzten vier Wochen gewesen. Schon am 15. November zeigte ein Passant vier junge Männer an, die am S-Bahnhof Charlottenhof "Sieg Heil" gerufen haben sollen. Reaktion der Polizei: "Wir können uns nicht um jeden Krakeeler kümmern." In der gleichen Nacht schlugen vier junge Männer in der Straßenbahn einen Mosambikaner zusammen. Von ihnen fehlt jede Spur.

Nazilieder in der Straßenbahn, schwerer Raub, Beschädigung eines jüdischen Friedhofes, Flugblätter der NPD in Informationskästen der Potsdamer Verkehrsbetriebe - selbst die Lokalpresse dokumentiert mittlerweile penibel das Anwachsen rechter Aktionen. "Das passiert am hellichten Tag", sagt der Sprecher der AG Antirassismus. Helfer oder Zeugen fänden sich nur selten. Ein Sprecher der Kampagne gegen Wehrpflicht werde seit längerem persönlich bedroht.

Das Potential der organisierten Rechtsextremisten schätzt Meinl auf "zwei Dutzend". Im Juli dieses Jahres versammelten sich über hundert Rechte, um eine einen Protestmarsch durch die "rechten Problemviertel" Waldstadt und Schlaatz anzugreifen. Bei einer Hausdurchsuchung in der rechten Szene stellte die Polizei im Frühjahr scharfe Waffen sicher. Im November tauchte erstmals ein Flugblatt der Anti-Antifa-Aktion Potsdam auf. Darin legten Potsdams Rechtsradikale nicht nur die Rechtschreibreform sehr zu ihren Gunsten aus, sondern erklären auch "denen den Krieg, die diese Stadt in Chaos und Dreck versinken lassen": Sozialarbeitern, Studenten, "Dreckszecken auf der Straße", Hochschülern, PDS. "Übt Gewalt und Terror gegen die, die euch das Recht auf Meinungsfreiheit und gedankliche Entfaltung verwehren wollen", heißt es in dem Pamphlet, in dem zur "Zusammenarbeit mit älteren Kameraden" aufgerufen wird.

Für Menschen wie Samuel M. also kein Grund zur Entwarnung in der Landeshauptstadt. M. lebt seit ungefähr einem Jahr in Deutschland, bei dem Ziel seiner Flucht aus dem Sudan hatte er keine Wahl. Trotz seiner negativen Erfahrungen und dem "kalten Wetter" will er auf Dauer hierbleiben. Er wartet im Moment noch auf seine Arbeitserlaubnis. "Es ist schlimm hier, nur: Im Sudan ist es noch schlimmer."