Bis in die letzte Instanz

Für NS-Zwangsarbeiter ist seit dem Bonner Regierungswechsel alles anders - noch schlechter nämlich

Rivka Merin bekommt nun doch kein Geld. Im Frühjahr hatte ihr das Bonner Landgericht als einziger von 22 Klägerinnen, die im Konzentrationslager Auschwitz für die Munitionsfirma Union Sprengpatronen hergestellt hatten, 15 000 Mark als Entschädigung für Zwangsarbeit zugesprochen. In dritter Instanz entschied nun das Oberlandesgericht Köln, daß die ehemaligen Sklavenarbeiterinnen deswegen keinen Anspruch auf Entschädigung hätten, weil das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) die Zwangsarbeit nicht als "Schaden" anerkenne. Tatsächlich sieht das BEG - eigens dazu geschaffen, den Nachfolgestaat des Nazi-Reiches vor Entschädigungszahlungen zu schützen - keine Zahlungen für Zwangsarbeit vor. Das ist auch der Grund, weshalb die ehemaligen Sklavenarbeiterinnen und Sklavenarbeiter bislang, abgesehen von minimalen Zahlungen einiger Unternehmen, leer ausgegangen sind.

Nachdem das Bonner Verwaltungsgericht grundsätzlich anerkannt hatte, daß die Union-Zwangsarbeiterinnen einen Anspruch auf Entschädigung haben, schränkte schon das Landgericht in der zweiten Instanz diesen Anspruch auf diejenigen Klägerinnen ein, die bisher keine Leistungen nach dem BEG erhalten hatten. Übrig blieb Rivka Merin, eine Jüdin aus Polen, die wie die anderen Klägerinnen heute in Israel lebt. Alle anderen hatten BEG-Leistungen in einer Höhe von maximal wenigen tausend Mark bekommen.

Rivka Merin hatte keine Leistungen beantragen können, weil sie bis 1989 in Polen lebte, also in einem derjenigen Staaten, die nach dem Londoner Schuldenabkommen auf individuelle Entschädigungen für ihre Staatsbürger zugunsten von Reparationen verzichtet hatten. Mitte der neunziger Jahre hat auch der Bundesgerichtshof anerkannt, daß dieses Abkommen vom Anfang der fünfziger Jahre mit der Wiedervereinigung hinfällig geworden war. Damit machte der BGH den Weg frei für Klagen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa vor deutschen Gerichten.

Im Fall Union war das Bundesfinanzministerium, das für solche Klagen zuständig ist, schon 1997 nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts in Berufung gegangen. Dies entsprach ganz der Linie der alten Bundesregierung, die Ansprüche der Überlebenden nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Die Firma Union war einige Jahre zuvor in Konkurs gegangen, deswegen blieb die Klage an der Bundesrepublik hängen. Viele weitere Firmen, die von der Zwangsarbeit profitiert haben, existieren heute ebenfalls nicht mehr; der Bundesregierung ging es darum, zu verhindern, daß sie für diese Firmen haftbar gemacht wird. Hätten sich die Klägerinnen im Fall Union durchgesetzt, so wäre der Weg für weitere Klagen frei gewesen.

Das Bundesfinanzministerium setzte seine Linie, bis in die höchste Instanz

zu klagen, sollte ein Gericht Entschädigungsansprüche anerkennen, auch nach dem Urteil des Landgerichts Bonn fort - obwohl in diesem zweiten Urteil die Linie bereits festgeschrieben war: Der Tenor der Urteilsbegründung lautete, daß Klägerinnen, die unter anderem für KZ-Haft und weitere "Schäden" entschädigt worden waren, kein Geld für ihre Zwangsarbeit bekommen sollten. Das Oberlandesgericht Köln hatte nur noch die Ausnahmeregelung für Rivka Merin zu kassieren.

Interessanter war das Verhalten des Bundesfinanzministeriums, das jetzt SPD-Chef Oskar Lafontaine untersteht. Das Urteil sollte eigentlich schon vor zwei Monaten verkündet werden, einen Tag, nachdem der damals bereits designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder sich mit Spitzen der deutschen Wirtschaft getroffen hatte, um über Entschädigungen zu sprechen. In der Hoffnung, nach der Übernahme des Ministeriums durch Lafontaine werde sich die Haltung der Bundesregierung verändern, stimmten die Vertreter der Klägerinnen damals der Verschiebung der Urteilsverkündung zu. Nach Schröders Gespräch mit den Firmenbossen, dem eine Reihe von "Geheimtreffen" der Spitzenmanager mit Kanzleramtsminister Bodo Hombach folgte, zeichnete sich jedoch schnell ab, daß die rot-grüne Bundesregierung die Politik von CDU, CSU und FDP in verschärfter Form fortführen würde.

Lafontaine hätte die von Waigel eingelegte Berufung einfach zurückziehen und damit das Urteil des Bonner Landgerichts anerkennen können - das wäre ein kleines politisches Signal der Regierung gewesen, wenigstens bei Überlebenden in Osteuropa anders mit der Entschädigungsfrage umzugehen. Statt dessen vergeht seit Schröders Amtsantritt keine Woche, in der er nicht die Entschädigungsforderungen als "überzogen" denunziert und den Unternehmen den "Schutz des Staates" verspricht.

Vor der Bundestagswahl hatte Schröder eine Regelung noch für dieses Jahr angekündigt. In der niedersächsischen Staatskanzlei wurde ein Stiftungsmodell entwickelt, nach dessen Vorbild Volkswagen schließlich einen Privatfonds gründete. Das Wolfsburger Autowerk, das während der letzten Jahre der Nazi-Diktatur insgesamt 17 000 Sklavenarbeiter beschäftigte, hat im September einem von einem Prominenten-Kuratorium unter Leitung des früheren israelischen Premierministers Shimon Peres verwalteten Hilfsfonds einmalig eine Summe von 20 Millionen Mark zur Verfügung gestellt.

Die Grünen haben schon seit Jahren Konzepte für eine Bundesstiftung. Nun sind alle diese Vorschläge in den Schubladen verschwunden, und um Volker Beck, den selbsternannten Entschädigungsexperten der Grünen, ist es merkwürdig still geworden.

In der SPD gibt es nicht einmal einen solchen Experten - mit Ausnahme des ehemaligen Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel, der vergangene Woche Schröder scharf für seine Ausfälle kritisierte und innerhalb der Partei nicht mehr viel zu melden hat. Als aber am vergangenen Donnerstag in der ARD-Sondersendung "Angeklagt: Die deutsche Wirtschaft" ausgesprochen wurde, daß es der Zweck des Bundesentschädigungsgesetzes war, die Bundesrepublik vor Entschädigungsforderungen zu schützen und daß auch die Regierungen Brandt und Schmidt dieses Gesetz in der Substanz unangetastet ließen, da war auch bei Studiogast Vogel Schluß mit lustig: "Infam" sei diese Darstellung, noch infamer sei es, eine Kontinuität von 1945 bis heute zu konstruieren, am allerinfamsten aber, Schröder in diese Kontinuität zu stellen, dem man doch "die Daumen drücken" müsse.

"Der neue Umgang mit der Nazi-Vergangenheit" - so der Spiegel-Titel vergangene Woche - ist offensichtlich der ganz alte. Die Entschädigungsdebatte, die ausgesprochen einseitig geführt wird, hat vor dem Hintergrund der von Martin Walser eingeleiteten Neubewertung des "Dritten Reiches" nur eine Alibifunktion. Es soll der Eindruck erweckt werden, als gebe es Verhandlungen - zur Zeit werden Gespräche aber ausschließlich zwischen den Unternehmen geführt, die sich nicht einigen können. Mit den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern oder deren Vertretern wird nach wie vor nicht gesprochen.

So dementierte Bodo Hombach, der in Schröders Auftrag die Arbeitsgruppe der deutschen Unternehmen "moderiert", auch die Spiegel-Meldung, noch vor dem 27. Januar 1999, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, werde die Stiftung der Öffentlichkeit vorgestellt. Es gebe noch Verhandlungsbedarf, sagte Hombach.

Unterdessen ruft das bundesweite "Bündnis gegen IG Farben" für den 18. Dezember zu einem Aktionstag auf. "In der deutschen Öffentlichkeit wird behauptet, Entschädigungszahlungen gefährdeten Arbeitsplätze - eine weitere Version von 'Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg', nur dieses Mal vom Bundeskanzler persönlich gestreut. Das paßt in eine Zeit, in der vehement wie noch nie ein Schlußstrich unter die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit gefordert wird", heißt es in dem Aufruf. Nach zweimaliger Verschiebung soll am 18. Dezember die Aktionärsversammlung der IG-Farben-Abwicklungsgesellschaft stattfinden.

Kontaktadresse für den Aktionstag: Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre; Telefon: 0221 - 599 56 47, Fax: 0221 - 599 10 24, E-Mail: Critical_Shareholders@compuserve.com