Die Stütze hat Geburtstag

Die französischen Erwerbslosen sind wieder auf der Straße

Es geht wieder los: Die französischen Erwerbslosen sind seit letzter Woche erneut auf der Straße. Doch dieses Mal sind sie früher dran und zudem zahlreicher als im vorigen Winter.

25 000 Teilnehmer waren am vergangenen Donnerstag auf einer Erwerbslosendemonstration in Marseille, aus Anlaß des zehnten Geburtstages der 1988 eingeführten Sozialhilfe (RMI) - ein beachtlicher Auftakt. Die Arbeitslosenkassen waren verschlossen und verrammelt. Also drangen die Demonstranten in insgesamt sechs der acht Ämter im Departement um Marseille ein. Für Montag dieser Woche wurden die ersten Besetzungen angekündigt, für Donnerstag ein landesweiter Aktionstag.

Im Dezember des vergangenen und in den ersten Monaten dieses Jahres hatten die Erwerbslosen mit einer Reihe von Besetzungen in ganz Frankreich - in den ersten Januartagen waren 40 Arbeitslosenkassen gleichzeitig besetzt - und anderen Protestaktionen von sich reden gemacht. Die Träger dieses Protests waren in den verschiedenen Städten nur kleine organisierte Kerne von jeweils einigen hundert Erwerbslosen. Doch zogen ihre Aktionen große Solidaritätsdemonstrationen - zuletzt im März - nach sich. Und vor allem wurde der Protest während der gesamten Zeit von einer breiten Sympathie-Welle begleitet: Nach der Umfrage einer Boulevardzeitung vom Januar unterstützten 70 Prozent der Bevölkerung die Aktionen und Besetzungen.

Begonnen hatte alles in Marseille. Schon Ende der siebziger Jahre gründete die KP-nahe Gewerkschaft CGT dort Arbeitslosenkomitees, um unter den Betroffenen von Massenentlassungen der traditionellen Industrien eine kollektive Organisierung aufrechtzuerhalten. Und in Marseille war am 11. Dezember 1997 der Startschuß für die Erwerbslosenbewegung gefallen - mit der ersten Besetzung einer Assedic (Arbeitslosenkasse). Unmittelbarer Anlaß war seinerzeit die Forderung nach einer "Jahresendprämie" in Höhe von 3 000 Francs (umgerechnet rund 900 Mark) für die Erwerbslosen.

Kurz zuvor war die "Reform" der Unedic, der landesweiten Trägerorganisation der Arbeitslosenkassen, durchgeführt worden. Die Unedic wird von Gewerkschaften und Kapitalverbänden paritätisch verwaltet, Vorsitzende ist die rechtssozialdemokratische Gewerkschaftschefin Nicole Notat (CFDT). Am 1. Oktober 1997 war die Unedic "reformiert" worden, um - so hieß es - die Rentabilität der Mittel zu erhöhen. Am Jahresende vorhandene Überschüsse sollten aufbewahrt und gezielt für bestimmte Maßnahmen der "Eingliederung" in den Arbeitsmarkt aufgewendet werden - damit jene Erwerbslosen, die auf dem Arbeitsmarkt überhaupt noch reale Chancen haben, nicht die Arbeits- und Lohnbedingungen der gewerkschaftlichen Klientel, etwa der CFDT, nach unten drücken könnten. Jene, die keine "Eingliederungschance" haben, bleiben bei diesem Kalkül freilich auf der Strecke.

Bis dahin hatten die örtlichen Träger der Arbeitslosenkassen zum Jahresende die noch verbliebenen Überschüsse informell an die notleidenden Teile ihrer Klientel ausgeschüttet - um bei der Überbrückung finanzieller Engpässe zu helfen oder um auch den Arbeitslosen ihre Weihnachts- oder Silvesterfeier zu ermöglichen. Diese durch die Reform nicht mehr mögliche Ausschüttung der Jahresüberschüsse forderten die protestierenden Arbeitslosen zurück. Sie wollten einfach eine "Jahresendprämie", analog dem 13. Monatsgehalt für Lohnabhängige.

Zudem formulierte die Erwerbslosenbewegung bald zwei Forderungen nach strukturellen Veränderungen: Die Sozialhilfe RMI sollte auch an 18- bis 25jährige ausbezahlt werden, die bisher vom Anspruch augeschlossen sind; und die "sozialen Minimalleistungen" sollten um jeweils 1 500 Francs (450 Mark) pro Monat erhöht werden. Diese "Minimalleistungen" sind einerseits die Sozialhilfe RMI, andererseits die Arbeitslosen-Sonderhilfe für Langzeiterwerbslose ASS; beide betragen umgerechnet 650 Mark.

Unter dem Druck der Protestwelle im Winter 1997/98 wurden die Unedic-Träger, vor allem aber die staatliche Politik, zu bestimmten Zugeständnissen gezwungen. Die ASS wird, so eine der Maßnahmen der Jospin-Regierung, in Zukunft jährlich an die Inflation angeglichen. Und das "Gesetz gegen den sozialen Ausschluß", das im Juli dieses Jahres verabschiedet wurde, schafft zwar nicht die Armut der von Erwerbslosigkeit betroffenen Bevölkerungsgruppen ab, dient aber dazu, die extremen Auswirkungen zu mindern - so werden Zwangsräumungen wegen Mietschulden erschwert; die Miete kann für einen vorübergehenden Zeitraum (bis zu zwei Jahren) gestundet werden. Zudem wurden Anfang 1998 eine Milliarde Francs (300 Millionen Mark) von der Regierung für einen "Fonds für soziale Nothilfe" (FUS) freigemacht. In besonderen sozialen Härtefällen sollten Erwerbslose aus diesem Topf bedient werden können.

Der darauf folgende Ansturm muß die Regierung überrascht haben: In kürzester Zeit wurden 800 000 Anträge gestellt, in 600 000 Fällen wurden durchschnittlich 2 000 Francs (600 Mark) an Hilfen bewilligt. Wo die Sozialbehörden, denen die Mittel zugeteilt worden waren, sich bei der Auszahlung von Hilfen stur stellten, konnte in den meisten Fällen mit kurzen Besetzungsaktionen nachgeholfen werden.

Und so konnte schließlich eine gewisse Kreativität und Großzügigkeit bei der Auslegung der Kriterien für die "soziale Notfallhilfe" erreicht werden. Einer der großen Erfolge der Bewegung: Sie konnte durchsetzen, daß die sogenannten Regularisierungskosten für arbeitslos gewordene "illegale" Immigranten, stattliche 2 500 Francs (800 Mark), aus dem FUS-Topf beglichen wurden - was vom Behördenapparat nicht vorgesehen war. Das bedeutet, daß arbeitslos gewordene Arbeitsimmigranten, deren Aufenthaltspapiere von den Behörden nicht verlängert wurden (oder die niemals welche besessen hatten), die Kosten für die Ausstellung gültiger Papiere - im Zuge der "Legalisierung" ihres Aufenthalts - nicht aus eigener Tasche bezahlen mußten.

Die Regierung, der dieses Resultat gar nicht gefiel, zeigte in der Folge spürbar Härte. Ein Rundschreiben der Regierung an die untergeordneten Verwaltungsstellen vom 30. Juli 1998 sieht die Schaffung sogenannter Kommissionen für soziale Notfallhilfe (CASU) vor. Die sollen dazu dienen, alle bis dahin zur Auszahlung von Nothilfen aus dem FUS-Topf bevollmächtigten Stellen (Wohnungsämter, Kindergeldstellen, Arbeitslosenkassen) miteinander zu "koordinieren". Und zwar unter Federführung des Präfekten, also des Vertreters des Zentralstaats in jedem Departement.

Die Hauptfunktion der Koordinierung ist es zu kontrollieren, welche Mittel wofür ausgeschüttet werden. Künftig sollen die "Notfallhilfen" nurmehr für eine bestimmte Anzahl konkreter Zwecke (Ausfallzahlung für die Miete oder die Stromrechnung u.ä.) ausgezahlt werden. Durch Datenabgleich der betroffenen Ämter untereinander soll darüber gewacht werden, daß Bedürftige nicht mehrere Anträge zugleich stellen. In zwei Dritteln der Departements sind diese CASU-Kommissionen mittlerweile einsatzbereit.

Die Forderung nach einer "Jahresendprämie" ist von den Demonstranten in Marseille nun erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden. Zehntausende von Anträgen auf eine soziale Nothilfe hat das CGT-Arbeitslosenkomitee der Mittelmeermetropole bereits gesammelt. Sie sollen gebündelt der CASU-Kommission übergeben werden, die dort zum ersten Mal am 7. Dezember zusammentreten soll.

Die CGT-Arbeitslosen haben für diesen Tag schon ihr Kommen angekündigt - "mit den Matratzen". Kurze und eher symbolische Besetzungsaktionen fanden Ende letzter Woche bereits in Paris, Lyon, Nantes, Caen und Lille statt. In Paris hatten die 25 Assedic-Außenstellen am Donnerstag und Freitag vergangener Woche vorsichtshalber schon geschlossen, sollten aber Anfang dieser Woche wieder geöffnet werden. Die Regierung wollte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kommentare abgeben.