Ratten im Spiegel-Kabinett

Gefährliche Orte IL: Der Wedding kämpft um seinen guten Ruf. Kiezarbeiter im Dialog mit Spiegel-TV

Eigentlich müßte Berlin schon lange dem Untergang geweiht sein: Kreuzberg ist seit Jahren ein Ghetto, ein Großteil Schönebergs verslumt, Neukölln ist nicht mehr zu retten, und jetzt droht auch noch der Wedding zu kippen. Die Stichworte sind so simpel wie eindeutig: Ratten, Ungeziefer, ein zu hoher AusländerInnenanteil, Roma, Flüchtlinge, Obdachlose, Kriminalität. In den Reden von CDU-PolitikerInnen oder in B.Z.-Aufmachern tauchen die Begriffe immer wieder auf. Aber erst Thomas Heise von Spiegel-TV hat es geschafft, alle diese Klischees in einem zwölfminütigen Filmbeitrag zusammenzufassen, der Anfang September unter dem Titel "Wedding - ein Stadtteil vor dem Verfall" ausgestrahlt wurde.

Eine Tour mit dem Kammerjäger stimmt die ZuschauerInnen auf das Thema ein. Die Kamera filmt ein Rattennest im Treppenhaus. "Goldene Zeiten für Kammerjäger", tönt es aus dem Off. Schnitt. Zu den Bildern von heruntergekommenen Wohnungen heißt es: "Häuser, in denen keine Deutschen mehr wohnen." Eine kurze Sequenz in einer Suppenküche für Obdachlose wird mit dem Kommentar: "Armut - zunehmend trifft es auch die Deutschen" unterlegt. Schnitt. Im Hof einer Unterkunft für bosnische Kriegsflüchtlinge klagt ein Familienvater, wegen einer mehrwöchigen Sozialhilfesperre sei er gezwungen, seine Familie mit Lebensmitteln aus dem Container zu versorgen. Weiter geht es zu drei von Roma bewohnten Häusern. Eine deutsche Nachbarin beschwert sich über Ratten und Fliegen, seit die Deutschen weggezogen sind.

Das Filmteam dringt mit einem Gerichtsvollzieher in die Wohnung einer älteren jugoslawischen Frau ein, die noch im Bett liegend angetroffen wird. "Ihr Sohn, der seine Telekom-Rechnung nicht bezahlt hat, ist also nach dem Gefängnis gleich nach Jugoslawien gefahren?" spricht der Gerichtsvollzieher in die Kamera. Schnitt. Ein betrunkener Deutscher lallt, er sei kürzlich von vier dieser Türken überfallen worden. Als er über den Tathergang befragt werden soll, torkelt er schnell aus dem Bild. Schnitt. Ein alternatives Pärchen erklärt vor seiner leeren Wohnung, sie hätten sich schweren Herzens zum Umzug nach Pankow entschlossen, weil ihre Kinder in den Weddinger Schulen wegen der vielen ausländischen SchülerInnen schlechtere Bildungschancen hätten. Daran schließt sich das Statement einer Hauptschulrektorin an, die von der Kulturlosigkeit der ausländischen Kinder spricht, die mit sechs Jahren noch nicht selbständig eine Schere halten könnten. Schnitt.

Die Kamera zeigt Jugendliche verschiedener Nationalitäten bei Boxsportübungen in einem Weddinger Sportverein. Folgerichtig werden in der nächsten Einstellung türkische Jugendliche gezeigt, die auf dem Leopoldplatz von der Polizei festgenommen werden. Sie protestieren so vehement gegen das Abfilmen, daß der Einsatzleiter dem Spiegel-TV-Team einen Platzverweis erteilt, "damit die Situation nicht eskaliert".

Vielen Weddinger KiezaktivistInnen ließ dieser Film keine Ruhe. Am vergangenen Freitag trafen sich rund hundert von ihnen im alternativen Kulturzentrum Osloer Kulturfabrik, um dem Filmemacher ihre Meinung zu sagen. SozialarbeiterInnen, ElternvertreterInnen und ergraute AktivistInnen waren in der Überzahl und mittendrin saß Rainer Sauter, grüner Jugendstadtrat im Wedding, der als Mitbegründer des Vereins SO 36 in den siebziger Jahren seine Kiezerfahrungen in Kreuzberg gesammelt hat.

Trotzdem wäre der angestrebte Dialog schon vor Beginn der Veranstaltung fast beendet gewesen, weil ein deutsch-türkischer Fernsehsender die Veranstaltung mitschneiden wollte. Die große Mehrheit hatte nichts dagegen, vier Personen wollten aber partout nicht nachgeben. "Ich bin Weddinger, wohne seit 40 Jahren in diesem Stadtteil und fordere, daß die Kamera sofort ausgemacht wird", rief ein Mittsechziger wütend in den Raum. Ein junger Kiezaktivist aus Prenzlauer Berg sprang ihm mit dem lustigen Argument bei: "Ich bin Antifaschist, will aber, daß die Nazis hier auch zu Wort kommen. Wenn gefilmt wird, trauen sie sich aber nicht."

Bevor eine ausufernde Debatte über Mehrheitsrecht und Minderheitenschutz entstehen konnte, entschied Astrid Steuer von der Nachbarschaftsinitiative Osloer Straße als Verantwortliche der Veranstaltung gegen das Filmteam. "Weil wir niemanden überrumpeln wollen, bleibt die Kamera heute Abend aus."

Schließlich wurde das Licht gelöscht und Heises Filmchen flimmerte über die Leinwand. Schon die Vorführung wurde von aufgeregten Zwischenrufen aus dem Publikum begleitet. Kaum war der Film beendet, schon gab es Wortmeldungen gleich im Dutzend. Um den Dialog aufrecht zu erhalten, wurde mit Stephan Buchwitz ein Mann als Moderator eingesetzt, der als besonders qualifiziert für den Job, weil gebürtiger Weddinger, vorgestellt wurde. Talkmasterqualitäten konnten ihm dennoch nicht abgesprochen werden: "Wir wollen hier den Dialog. Extremisten sind ja wohl nicht im Raum", stellte er zu Beginn klar. Noch aus der schärfsten Kritik konnte er etwas Positives herausziehen. Den Rassismusvorwurf gegen Heise wollte er aber nicht durchgehen lassen: "Da brauchen wir mit dem Dialog erst gar nicht anzufangen." Dabei waren es nur wenige, die sich durch die Assoziation Ratte - Mensch an NS-Propaganda erinnert fühlten. Ein Sozialarbeiter hatte durch einen Anwalt prüfen lassen, ob durch den Film der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt sei, erhielt allerdings einen negativen Bescheid. Der Kreuzberger Heimatschriftsteller Helmut Höge interpretierte den Film als eine Collage aus bekannten Zitaten von Klaus-Rüdiger Landowsky und bescheinigte sowohl dem CDU-Mann als auch dem Filmemacher einen schlechten Charakter.

Die Mehrheit aber nahm Thomas Heise übel, ihren Bezirk bundesweit in ein schlechtes Licht gerückt zu haben. "Wir sind der andere Wedding. Warum kommen wir in dem Film nicht vor?" lautete die Standardfrage, der sich Stadtrat Sauter anschloß. Die meisten Statements begannen mit den Worten: "Ich bin im Wedding geboren", "ich wohne seit 20 Jahren im Wedding", "ich arbeite seit Jahren in Weddinger Stadtteilinitiativen". Ihre mühsame Arbeit sei in dem Beitrag mit keinem Wort gewürdigt worden, stellten sie beleidigt fest. Heise ließen diese Lamentos kalt. "Ich glaube nicht, daß ich dazu verpflichtet bin, jede Kiezinitiative zu befragen, wenn ich einen Film über den Wedding mache."

Ein Filmemacher aus dem Osten, der sich mit den von ihm gedrehten Filmen und den dazugehörigen Auszeichnungen vorstellte, schlug sich auf die Seite seines Kollegen. Die Veranstaltung erinnere ihn an die finstersten Aktivitäten der SED-Propaganda-Abteilung. Auch dort sei immer gegen zersetzende Kritik gewettert worden, der eine Herausstellung positiver Beispiele entgegengesetzt werden mußte.

Nur eine Kritik schien Heise wirklich zu treffen. Als ihm vorgeworfen wurde, er bringe mit seinem Film die ganze Hauptstadt in Verruf, sah er sich zu der Erklärung veranlaßt, sein Sender und auch er persönlich hätten sich immer für die Hauptstadt Berlin eingesetzt. Erst kürzlich habe er das mit seinem Filmbeitrag über den Potsdamer Platz bewiesen.

Mittlerweile hatten sich die Emotionen gelegt und die DiskutantInnen zogen ab. Stephan Buchwitz konnte zum Abschluß noch einmal seine Moderatorenqualitäten demonstrieren. "Wir sind uns doch alle einig, daß eine kritische Berichterstattung auch über den Wedding schon in Ordnung ist, aber bitte in Zukunft etwas differenzierter." Und einen Lernerfolg konnte er dem Publikum auch noch mit auf den Weg geben: "Wir haben heute abend vielleicht alle erkannt, daß wir ein Auge auf das haben müssen, was über unseren Kiez in den Medien verbreitet wird."