Der Sound des Konsenses

Der Lübecker Brandanschlag und seine mediale Inszenierung - Projektionsfläche für Linke oder Ausdruck rassistischen deutschen Alltags? Ein Gespräch zwischen

Damit hatte niemand gerechnet: Über ein Jahr, nachdem das Lübecker Landgericht Safwan Eid von dem Vorwurf freigesprochen hatte, für den Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft verantwortlich zu sein, verwarf der Bundesgerichtshof am 24. Juli dieses Jahres das Urteil. Der Grund: Richter Rolf Wilcken hatte es abgelehnt, Protokolle von abgehörten Gesprächen zu verwerten, die Eid im Gefängnis mit Besuchern führte. Diese Aufzeichnungen, urteilten die Karlsruher Juristen, hätten aber dazu beitragen können, den Flüchtling als Täter zu überführen. Voraussichtlich im kommenden Frühjahr, über drei Jahre nach dem Feuer, das zehn Menschen das Leben kostete, muß nun erneut verhandelt werden. Mit Safwan Eid steht ein ehemaliger Hausbewohner vor Gericht. Der Tatverdacht gegen vier Männer aus Grevesmühlen ist dagegen bis heute nicht ausgeräumt.

The same procedure as last year? Vor dem Kieler Oberlandesgericht, das den Fall jetzt behandelt, wird es um diesen Verdacht gegen die Grevesmühlener nicht gehen. Ungeklärt bleibt, wie sich die vier Männer in der Tatnacht Verbrennungen zugezogen haben. Auch die Ungereimtheiten bei den Ermittlungen, mit denen Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei aufgefallen waren, werden vermutlich kein Thema sein.

Vor Gericht steht schließlich Safwan Eid. Und mit ihm eine Interpretation vom Verlauf der Brandnacht, wie sie nach dem Anschlag in fast allen gesellschaftlichen Bereichen nicht anders erwünscht war. Ob bei den Strafverfolgern, der öffentlichen oder der veröffentlichten Meinung, die Belastung des Libanesen durch den Sanitäter Jens Leonhardt, jenes "Wir war'n's", das der Mann von Eid gehört haben will, wurde schnell und gerne aufgegriffen. Widerspruch von links verhallte - oder stieß auf empörte Zurückweisung. Folglich auch, wer einen rassistischen Hintergrund vermutete und von einem "nationalen Konsens" sprach.

Auch die Mehrheit der Autoren und Autorinnen in der alternativen taz machten sich gegen das "linksradikale Gemüt" stark, das "wahnhaft" gegen das "imaginär Deutsche" kämpfe. So kritisierte Mariam Niroumand das vermeintlich verbreitetete Bedürfnis, auch schuld sein zu wollen, "wenn wir wirklich nicht schuld sind". Und Redakteur Jan Feddersen warf der Soli-Bewegung vor, selbst rassistisch zu sein. (Red.)

Vogel: "Es kann offenbar nicht sein, was nicht sein darf: Ausländer sind in Deutschland stets die Verfolgten und genießen deshalb Gesinnungsschutz durch ihre linksradikalen Unterstützer. Tatsächlich spiegelt sich in solchen Äußerungen ein Rassismus gegen das imaginäre Deutsche, wie er blütenrein momentan gerade in politisch völlig marginalisierten Szenen gedeiht." Dieses Zitat stammt aus einem Kommentar, den Sie drei Monate nach Beginn des Prozesses gegen Safwan Eid im Dezember 1996 in der taz geschrieben haben. Der Lübecker Brandanschlag sowie seine mediale Verarbeitung entstanden demnach nicht im Kontext eines rassistischen Klimas, gegen das es anzugehen gilt. Wer im Zusammenhang mit den Ereignissen von Rassismus spricht, macht sich selbst zum Rassisten gegen die Deutschen.

Eine ziemlich gewagte These. Ich behaupte das Gegenteil: Von Anfang gab es in verschiedenen Bereichen innerhalb des Apparats und der Gesellschaft, wohl aus unterschiedlichen Gründen, ein großes Interesse, einen rassistischen Hintergrund des Anschlages auszuschließen. Es sollte nicht sein, was nicht sein darf: daß wieder deutsche Neonazis in einem Flüchtlingsheim Feuer gelegt hatten.

Feddersen: Nein, der gesamte Sound der Nachrichtenverarbeitung war zunächst so gehalten, daß alle, was auch in der Situation völlig klar war, davon ausgingen: Das können nur Rechte gewesen sein. Und dann stellte sich nach der Verhaftung von Safwan Eid binnen weniger Tage heraus, daß das alles offenbar viel komplizierter ist. Zudem dominierte in Lübeck eine Mentalität, die hat spenden und helfen lassen. Den Menschen war es offenbar nicht egal, was mit den Opfern des Brandes geschieht. Und es interessierte sie nicht, ob Eid der Täter war oder jemand anders. Es ging zunächst um eine Form bürgerlichen Mitgefühls, im Sinne bester bürgerlicher Tugenden. Die Spenden kamen, soweit ich das vom Diakonischen Werk weiß, aus allen Schichten, also vom Bourgeois genauso wie vom Proleten.

Vogel: Sicher haben Leute zunächst einmal geholfen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Aufatmen, insbesondere in Presse und Fernsehen, förmlich zu spüren war, als die Staatsanwaltschaft einen Hausbewohner als Täter präsentieren konnte und daraufhin die tatverdächtigen Grevesmühlener Männer freigelassen wurden. Wie sonst erklären Sie sich, daß in allen Zeitungen plötzlich von angeblich eindeutigen Beweisen gegen Safwan Eid die Rede war, obwohl selbst die Staatsanwaltschaft nur eine einzige, bis heute fragwürdige Aussage eines deutschen Sanitäters vorweisen konnte. Und wie erklären Sie sich, daß die Freilassung der Grevesmühlener trotz einiger Indizien - Stichwort angesengte Haare - so reibungslos über die Bühne ging?

Feddersen: Zu dieser einen, einzigen Aussage des Rettungssanitäters: Die war schon ein ziemlich dickes Brett. Wenn jemand auf mehrmaliges Insistieren hin sagt, ich habe gehört, da hat einer gesagt "Wir war'n's", ist das nicht zu verachten. Ich habe diese Aussage die er später vor Gericht auch im Zeugenstand gemacht hat, nicht für gelogen gehalten.

Vogel: Der Mann hat sich schon in diesen ersten Tagen regelmäßig widersprochen. Ganz abgesehen davon, daß er dieses berühmte "Wir war'n's" in einer Situation im Bus gehört haben wollte, die äußerst laut und chaotisch war. Für viel bezeichnender halte ich aber, daß man die Opfer, die beinahe alle von einem Anschlag ausgegangen waren und auch von entsprechenden Wahrnehmungen berichteten, von Anfang an nicht ernst nahm.

Feddersen: Würden wir die Sache umdrehen, hätte der Sanitäter also im Interesse Eids ausgesagt, wäre dem linken und liberalen Milieu sehr viel wohler gewesen. Wenn der Zeuge, völlig hypothetisch, sein "Wir war'n's" auf die Grevesmühlener gemünzt hätte, dann wäre uns, und damit meine ich auch die taz, das als Indiz sehr recht gewesen. Daran hätten wir alles aufgestrickt. Wenn ein Staatsanwalt diese Aussage des Sanitäters nicht ernst genommen hätte, müßte man sich dringend um seine Entlassung bemühen. Sicher, der Sanitäter hielt sich in relativ dubiosen Zusammenhängen auf. Und das Gotcha-Spielchen hat zwar was Männerbündlerisches, aber deswegen ist er doch kein Nazi, und auch kein Büttel von irgend jemanden. All diese begleitenden Soli-Recherchen waren mir immer viel zu verschwörungstheoriegeil.

Vogel: Immerhin kam er über einen Freund dazu, Aussagen bei der Polizei zu machen, der offensichtlich was mit Rechtsradikalen zu tun hatte. Schließlich fand man in seinem Spind eindeutig rechtsradikales Material.

Feddersen: Gut, das stimmt alles. Aber selbst die Militaria-Hefte im Spind sagen erst einmal nur aus, daß er eine solche Lektüre im Spind hatte. Nichts anderes. Das kann ich obskur finden, aber mehr auch nicht. Außerdem hat sich der Sanitäter nicht groß widersprochen. Ich fand es eher relativ komisch, daß er bei der Vernehmung im Prozeß so locker gegen Rechtsanwältin Gabriele Heinecke mehrere Stunden durchgehalten hat - ein Punkt, der in der Tat eine journalistische Erhellung verdient hätte. Doch der Sanitäter hatte für die Ausländerfreunde qua Zeugenaussage schon genug Gesprächsstoff abgegeben.

Vogel: Zurück zu den Tagen nach dem Brandanschlag. Auch die taz hat damals mit Wohlgefallen diese Entlastungsaussage gegen die Grevesmühlener zur Kenntnis genommen. Ich erinnere daran, daß sich Christian Semler bereits wenige Tage nach der Verhaftung Eids bei den Leserinnen und Lesern dafür entschuldigt hat, daß "wir" mal wieder versehentlich von deutschen Tätern ausgegangen seien. Wenige Tage später hat Mariam Niroumand, heute Lau, geschrieben, die taz habe völlig abgekoppelt von der Faktenlage die Mörder unter den Deutschen gesucht. Diese sogenannte Faktenlage zur Entlastung der vier Männer war dünn, die zur Belastung Safwans noch dünner. Was also anderes als der Wille, deutsche Verdächtige freizusprechen, steckt dahinter, wenn Mariam Lau frischweg so etwas behauptet - ganz abgesehen davon, daß die taz überhaupt nicht so eindeutig in ihren Schuldzuweisungen Richtung Grevesmühlen war. Mariam Lau hat jedoch mit ihrer Feststellung auch noch, parallel zu Konrad Adam in der FAZ, den Schluß gezogen, die Deutschen hätten einen tiefliegenden Schuldkomplex ...

Feddersen: ... womit sie recht hat, wenn man so plakativ will. Diese bombastische Diskussion hat unter anderem zur Folge, daß Martin Walser in der restlinken Szene inzwischen als Protofaschist gehandelt wird. Ob er, wie Ignatz Bubis sagt, mit seiner Festrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein geistiger Brandstifter ist, sei dahingestellt. Auffällig ist aber insgesamt, daß es in dieser wie in vergleichbaren Diskussionen nur noch um Freund-Feind-Unterscheidungen geht. Übrigens sind diese groben Differenzierungsmuster von den Nazis kultiviert worden und auch Linke haben sich zeit ihrer Geschichte dieses Mechanismus bedient. Ein genaues Hinhören wird damit unmöglich. Zutreffender wäre es, in puncto Walser, ihn als einen Mann zu charakterisieren, der wie fremdbestimmt eine "Verhaltenslehre der Kälte" an den Tag legt. Er ist ein typischer Vertreter der Flakhelfergeneration, der nichts als Sachlichkeit gelten läßt und Gefühle für verdächtig hält. Das macht sein Agieren so eisig.

Spräche man über diese Kälten, wären wir in der Beschreibung dessen, was unsere Gesellschaft, wenn man so will, ticken läßt, weiter. Aber auch die Linke der Jetzt-Zeit ist weit davon entfernt, mehr zu artikulieren als Gefühlsduselei. Phrasen von "Wut und Trauer", wie sie auch in Lübeck zum Ausdruck gebracht wurden, klangen so hölzern wie hohl. An diesem Punkt müßte weiter nachgedacht werden.

Zur Frage zurück: Semler hat sich übrigens nicht entschuldigt. Er hat nur einfach reflektiert, was die taz veranstaltet hat. Und andere Medien auch. Er hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum wir eigentlich immer gleich glauben, daß der Faschismus unter jeder Fußmatte hervorlugt. Und das hat Mariam Lau dann noch in ihrer Art zugespitzt, daß danach plötzlich alle Linken auf ihrem Sofa schlecht schlafen können.

Vogel: Was steckt dahinter, wenn in einer Situation, in der man bei jedem brennenden Flüchtlingsheim von einem rassistischen Verbrechen ausgehen muß, schnell und gern an einer einzigen Aussage eines Deutschen die Schuld eines Asylbewerbers festgemacht wird und gleichzeitig vier verdächtige Neonazis frei herumlaufen können? Warum wurde dieses Vorgehen so wohlwollend, sprich ohne Widerspruch bis hin zur taz inklusive ihrem Leserspektrum akzeptiert? Einer der ersten taz-Überschriften: "Der Mörder kam nicht von draußen" sprach dabei für sich. Warum konnte sich diese Haltung quer durch verschiedene Spektren, vom Haftrichter über Polizei und Staatsanwaltschaft bis hin zu großen Teilen der Medien sowie der Bevölkerung, halten? Das war doch kein Zufall, sondern Ausdruck eines in der Gesellschaft herrschenden hegemonialen Diskurses, also eines zumindest partiell existierenden Konsenses. Für diesen Diskurs steht auch Walser. Er ist kein Nazi; er hat für die gewöhnlichen Deutschen gesprochen, und sie haben ihn verstanden.

Feddersen: Erstens hat es in der taz wie in der Süddeutschen wie auch in der FAZ nie nur einseitige Reportagen gegeben. Es gehört zu den besonderen Legenden der linksradikalen Szene, in Sachen taz, der Zeitung, für die ich arbeite, anzunehmen, sie sei stets besonders verräterisch. Glaubenssätze können aber nach meiner Erfahrung sowieso nicht erschüttert werden. Sprechen wir lieber weiter zur Sache. Es ist eine krude Weltwahrnehmung, von Konsens zu reden. Den Konsens, den es hier gibt, ist der, daß man mit Menschen anständig umgeht. In allen Bereichen.

Ich räume ein, daß in weiten Teilen der CSU anders gedacht und gesprochen wird. Aber das interessiert mich einfach nicht. Nach dem rot-grünen Wahlsieg schon gar nicht. Vor zwanzig Jahren hätte man auch noch locker sagen können, es gibt einen nationalen Konsens, Schwule zu klatschen, heute sieht das trotzdem anders aus. Und so funktioniert das auch bei Ausländern.

Sicher, es stimmt ja alles über die "National Befreiten Zonen" im Osten. Und zugleich ist richtig, oder zumindest als These formulierbar, daß der DVU-Erfolg in Sachsen-Anhalt dazu geführt hat, daß ein solcher in Mecklenburg-Vorpommern nicht zustande kam. Da muß man gar nicht darauf hinweisen, daß glücklicherweise die PDS da ist, um diese Form des Protest binden zu können. Es hatte offenbar in Meck-Pomm diesen Konsens nicht gegeben.

Zu Ihrer konkreten Frage: Man kümmerte sich damals weniger um die Grevesmühlener, weil sie ein Alibi hatten. Nur für den Fall eines Schwelbrandes, der schon eine Stunde vorher angefangen haben müßte, hatten sie kein Alibi. Aber auch ich habe nie behauptet, die vier seien unschuldig. Ich habe nur geschrieben, daß man nach der Sachlage von einem dringenden Tatverdacht gegen die Männer im Gegensatz zu dem, was die Staatsanwaltschaft zu Safwan Eid recherchiert hatte, nicht ausgehen konnte.

Vogel: Diese Meinung haben Sie auch heute noch, trotz mehrerer Geständnisse, der immer noch ungeklärten Herkunft der versengten Haare und weiterer Verdachtsmomente?

Feddersen: Safwan Eid hat sein Nachtgewand weggeworfen, er ist nicht im Krankenhaus geblieben, er hat sich abholen lassen, alles war relativ gut organisiert ... Die El Omaris, die sich als einzige Familie aus dem Hauses nicht hinter Safwan Eid gestellt hatten, sind unter Druck gesetzt worden. Es gibt also durchaus Belastendes gegen ihn.

Vogel: Zumindest steht das jetzt so im Urteil. Vieles von dem, was dort niedergeschrieben wurde, ist nicht durch den Prozeß bewiesen worden. Beispielsweise wurde Eids Nachthemd ganz normal zusammen mit der Wäsche der anderen stationär Behandelten im Krankenhaus gefunden. Doch so weit muß man nicht gehen. Schon ein Blick in den Haftbefehl nach seiner Festnahme hätte genügt, um festzustellen, daß die Vorwürfe praktisch keine Grundlage hatten. Um das zu erkennen, brauchte es offenbar erst einen Richter Wilcken, der Safwan Eid nach einem halben Jahr U-Haft freiließ ...

Feddersen: ... gerade Wilcken ist ein Indiz dafür, daß die These vom Konsens nicht zutrifft. Schließlich war das Ende vom Lied, daß Wilcken Safwan Eid freigesprochen hat ...

Vogel: ... und der Bundesgerichtshof das Urteil wieder aufhob.

Feddersen: Ja, aber Wilcken hat ihn aus seiner Sicht freigesprochen. Er hat gesagt, im Zweifel für den Angeklagten. Der Richter hielt es nicht für plausibel, daß Eid der Täter ist. Und das fand ich bemerkenswert. Er hatte nichts von einem Scharfrichter. Er wollte weder sich noch der Öffentlichkeit etwas beweisen und war relativ uneitel. Ich finde sogar, daß er in zwei oder drei Situationen die Verteidigung zu wenig angemahnt hat, damit sie etwas vorsichtiger mit den El Omaris umgeht. Der Verlauf des Prozesses hat mich überzeugt: Ich fand das alles sehr unaufgeregt. Es war offensichtlich, daß Staatsanwalt Böckenhauer rhetorisch nicht das Kaliber einer Gabriele Heinecke hat. Was sich da im Prozeßsaal abspielte, war wohl eher ein Lehrbeispiel für die Kompliziertheit der Geschlechterfrage. Böckenhauer hatte einen fetten Apparat hinter sich, Rechtsanwältin Heinecke hat das eben mit ihren Mitteln gemacht. Und das ganz hervorragend. Trotzdem hat der Prozeß allein deswegen nichts klären können, weil außer der Familie El Omari niemand aus dem Haus wirklich bereit war, zu erzählen, was eigentlich passiert war. Und zwar erst einmal in einen ganz schlichten Sinne. Natürlich interessiert in jedem Gerichtsverfahren der normale Streit, die alltägliche Gifterei ...

Vogel: Und deshalb mußte der große Aufmacher in der taz sein, in dem die Aussagen der El Omaris hervorgehoben wurde, während die Angaben der anderen Opfer, die alle eine andere Wahrnehmung hatten, in der Zeitung nie Beachtung fanden. Zu Ihrer Zielscheibe wurden die Anwältinnen. Die Angaben etwa von Kibolo Katuta oder Marie Angonglovi, die alle von keinen besonderen Streitigkeiten sprachen, haben Sie hingegen einfach ignoriert.

Feddersen: Gabriele Heinecke hat diese einseitige Reportage mit großem Genuß ins Geweih gekriegt. Und das aus einem einfachen Grund: Wäre Böckenhauer auch nur ein einziges Mal mit den Flüchtlingen so umgegangen wie sie mit den El Omaris, dann hätte ich am nächsten Tag wirklich einen Aufmacher geschrieben: rassistischer Staatsanwalt. Das war eine reine Unverschämtheit. Sie hat den Sohn faktisch psychiatrisiert, für dumm erklärt. Das war für alle aus der Soli-Szene ein sehr schwieriger Tag. Damit hat sich auch Gabi Heinecke keinen Gefallen getan. Die Aussagen der anderen habe ich deshalb nicht so hervorgehoben, weil alle abgestimmt dasselbe gesagt haben.

Vogel: Sie haben alle gesagt, daß sie den Vorwurf gegen Safwan Eid für absurd halten. Ansonsten haben sie berichtet, wie sie die Nacht erlebt hatten. Grund genug, die Aussagen, und damit fast alle Zeugenangaben, die im Widerspruch zur Staatsanwaltschaft standen, nicht ernstzunehmen?

Feddersen: Wenn zwanzig zufällig herausgepickte Männer aus einer statistischen Masse plötzlich sagen, ich heiße Thomas, dann glaube ich das auch nicht. Ich denke übrigens ernsthaft, daß Safwan Eid nicht für die Tat verantwortlich ist. Auch nicht die Grevesmühlener. Ich glaube, daß alles viel komplizierter war. Aber das wird man wahrscheinlich nicht mehr herausfinden können. Da müßten die Hausbewohner erzählen: Was war mit Drogen oder Rotlicht-Geschichten? Oder über die üblichen Schwarzmarktgeschäfte von Asylbewerbern, die man moralisch nicht für besonders anstößig halten muß, schließlich dürfen sie ja auch nicht arbeiten.

Vogel: Die Solidarisierung soll es also nur gegeben haben, weil etwas zu vertuschen war?

Feddersen: Nein, es ist ein normaler sozialer Vorgang von unter Druck stehenden Menschen, daß sie zusammenhalten. Damals wußten sie ja auch noch nicht, daß sie dieses Jahr noch hier leben können. Unter normalen Bedingungen wären sie schließlich schon alle ausgewiesen worden. Sie hatten natürlich schlicht und ergreifend Angst.

Vogel: Wenn ich von dem ausgehe, was ich von den Bewohnern und Bewohnerinnen selbst über ihre Behandlung erfahren habe, liegt nahe, daß sie kein Interesse hatten, auch nur ein Wort zuviel zu sagen. Warum sollten sie auch - nach all den Erfahrungen mit der deutschen Öffentlichkeit, mit der Polizei, mit der Staatsanwaltschaft.

Feddersen: Es hat selten Unglücksbeteiligte gegeben, die mit derartig viel Mitgefühl behandelt wurden. Über sie senkte sich geradezu eine Glocke voller Anteilnahme, in jedweder Hinsicht.

Vogel: Nach ihren Angaben fühlten sie sich bei den Vernehmungen sofort als Beschuldigte. Auf eine vernünftige Übersetzung wurde auch verzichtet. Ganz normale Streitigkeiten, wie sie in jedem Haus, in dem Deutsche unter auch nur annähernd ähnlichen Bedingungen wohnen, genauso vorkommen würden, wurden in der Öffentlichkeit aufgebauscht. Der Tenor: Wenn Ausländer verschiedener Herkunft unter einem Dach wohnen, muß das geradezu zu Mord und Totschlag führen. Dennoch hätten sie den Ermittlern oder der Presse ihr Vertrauen schenken sollen? Und weil sie es nicht getan haben, sind sie, und nicht etwa Vertuschungen der Kripo und einseitige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verantwortlich dafür, daß die Hintergründe nicht aufgeklärt wurden?

Feddersen: Zur Aufklärung dessen, was wirklich geschah, war die Solidarität jedenfalls hinderlich. Nicht nur die unter den Bewohnern und Bewohnerinnen. Auch die Soli-Bewegung hat dafür gesorgt, daß die ganze Prosa, die man doch gerne mal erfahren hätte, nicht ans Tageslicht kommt. Aber auch die Staatsanwaltschaft hat in bestimmter Hinsicht nicht gut genug recherchiert. Wenn jemand versucht, eine bestimmte Theorie glaubhaft zu machen, dann muß er seine Gründe auch transparent machen. Böckenhauer hätte natürlich erklären müssen, warum er gewisse Dinge verworfen hat.

Vogel: Unabhängig davon, welche Geschichten hinter dem Brand stecken: Safwan Eid wäre ohne Wenn und Aber verurteilt worden, hätte es nicht die Anwältinnen und die wenigen Stimmen linker Aktivisten gegeben.

Feddersen: Richtig, da stimme ich zu. Daß es so gelaufen ist, ist in der Demokratie Gott sei Dank möglich.

Vogel: Der Traum von der Zivilgesellschaft, die alles zum Guten und Gerechten regelt? Mir ist unerklärlich, wie man einfach davon abstrahieren kann, daß Asylbewerber im allgemeinen vor Gericht schlechte Karten haben, daß sie auf der Straße angegriffen oder von deutschen Behörden zu über 95 Prozent abgeschoben werden.

Feddersen: Vieles hat, was die Übergriffe betrifft, in letzter Zeit nachgelassen. Und zwar gerade aufgrund von Initiativen dieses Staates, den Sie zum vermeintlichen Konsens zählen: Einsatzgruppen in Brandenburg, fast paramilitärisch organisierte überpolizeiliche Trupps gegen Rechtsradikale und so weiter.

Vogel: Was nicht gegen einen partiellen Konsens spricht. Es ist sogar bezeichnend, wenn Institutionen eines Staates wie beispielsweise der Verfassungsschutz empfindlicher auf Rassismen reagieren als seine Bürger. Doch in Lübeck trägt eben nicht nur eine indifferente Bevölkerung, sondern auch ein Teil des Apparates die Verantwortung für den Wunschtäter Safwan Eid ...

Feddersen: ... der Wunschangeklagte des deutschen Konsenses waren die Grevesmühlener. Die wollten sie haben: dumm, autoritär, versoffen, schlechte Väter - das optimale Bild des Rechtsradikalen. Es war im übrigen auch westdeutscher Rassismus gegen den Osten, der da über den Vorwurf gegen die Grevesmühlener durchgeschlagen hat. Man hätte gern die Ossi-Monster als Täter gehabt. Die Inszenierung war eigentlich mit einer anderen Besetzung gedacht. Das haben sich alle so gewünscht. Und genau das war übrigens auch das Thema meiner Kollegin Mariam Lau. Denn gewöhnlicherweise darf man auch in der taz nichts Böses über das Ausländische an und für sich sagen. Wenn man hingegen was Böses über das Deutsche sagt, hat man den Beifall allenthalben gratis.

Vogel: Möglicherweise hätten es auch deutsche Täter getan, wenn man sie rechtzeitig als Monster, Aussätzige, die nicht "zu uns" gehören, inszeniert und entsprechend - bildlich gesprochen - aus dem Volkskörper herausgeschnitten hätte. Fakt ist aber: Es gab offensichtlich daran kein Interesse. Die Möglichkeit hat es schließlich gegeben. Sie gäbe es sogar heute noch.

Feddersen: Nur mal hypothetisch: Was hätten Sie denn gemacht, wenn die Staatsanwaltschaft die Grevesmühlener angeklagt hätte und sie wären auch aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden? Wäre das Rassismus gewesen? Wahrscheinlich muß man aber vom Gegenteil ausgehen: Die wären am Arsch gewesen. Sie hätten sich eine Gabi Heinecke nicht erlauben können. Das ist aber zunächst nicht mehr als ein Beweis dafür, daß man auch proletarische oder subproletarische Angeklagte mit hervorragenden Anwälten ausrüsten müßte. Daß das nicht geschieht, ist ein Klassenproblem.

Vogel: Sicher. Aber Sie abstrahieren von der Realität, also davon, daß es neben dem Klassenwiderspruch rassistische Strukturen gibt, die derzeit hier gewalttätigere Auswirkungen haben und sich quer zur Klassenfrage stellen. Zudem halte ich die Frage der Verteidigung hier für nebensächlich. Schließlich haben Rechtsradikale genügend offensichtliche und weniger offensichtliche Advokaten, von denen sich viele auch noch problemlos innerhalb des Rechtsstaates bewegen können. Da sorge ich mich nicht darum, daß ihnen niemand offensiv juristische oder womöglich politische Rückendeckung geben könnte. Sie gehen von einem Ideal an Rechtsstaatlichkeit aus, das die Wirklichkeit überhaupt nicht hergibt. Vor allem Marginalisierte, derzeit primär Flüchtlinge, können sich dieses Vertrauen auf die Zivilgesellschaft mangels Realitätstauglichkeit abschminken.

Feddersen: Wenn Sie von Marginalisierten sprechen: Für mich sind das erst einmal Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in unser Land kommen. Auch ich finde, daß man das Asylrecht auf gar keinen Fall wieder in den alten Zustand korrigieren sollte. Mit einem Einwanderungsgesetz wären wir viel besser bedient. Sicher: Die Begründung der CDU zur Abschaffung des alten Asylrechts roch damals rassistisch im Quadrat. Den Rest halte ich allerdings für plausibel.

Vogel: Welchen Rest?

Feddersen: Die Tatsache, daß eine unkontrollierte Zuwanderung von unseren sozialen Systemen, also von all dem, was noch so halbwegs unseren Massenwohlstand in der BRD ausmacht, faktisch nicht tragbar ist. Weder gesellschaftlich noch finanziell. Selbst ein klassisches Multikulti-Land wie die USA hat eine Art Eisernen Vorhang zur mexikanischen Grenze hin.

Vogel: Was den hiesigen nicht rechtfertigt ...

Feddersen: Das nicht, aber man kann dieses Vorgehen zumindest begründen. Natürlich macht man sich in unserem Milieu mit solchen Begründungen immer zum moralischen Schwein, aber das kann ich aushalten. Wenn also die Asylbewerber aus der Lübecker Hafenstraße jetzt hier bleiben können, ist das so, wie es ist. Wenn sie abgeschoben worden wären, hätte ich auch nicht geweint. Es ist für mich nicht rassistisch, Leute abzuschieben. Das ist die Gesetzeslage, die wir haben ...

Vogel: ... die in vielen Punkten rassistisch ist. Und damit natürlich auch der juristische und gesellschaftliche Status von Flüchtlingen. Das, was in der Metropole Deutschland als zivilgesellschaftliche Errungenschaft gewertet wird, also die vermeintliche Umsetzung von Bürger- und Menschenrechten, ist für die meisten, in deren Adern kein deutsches Blut fließt, schlichtweg eine Fiktion.

Auch nach der Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts werden die meisten Ausländer und Ausländerinnen, die hierherkommen, in Flüchtlingsunterkünften, von Asylrichtern oder vom Bundesgrenzschutz gedemütigt. Ihre Chance, nicht in Verfolgung oder Verelendung abgeschoben zu werden, tendiert auch unter einer rot-grünen Regierung gegen Null. Die Realität von Asylsuchenden in all ihren Facetten hat der Umgang mit dem Lübecker Feuer, unabhängig vom tatsächlichen Hintergrund des Brandes, meiner Meinung nach eindeutig auf den Punkt gebracht.

Betrachtet man dagegen Ihre Wahrnehmung, so müßte die Sache geradezu als Beweis dafür in die Geschichte eingehen, daß sich in Deutschland der Umgang mit Asylbewerbern normalisiert hat.

Feddersen: So nicht. Aber für mich war der Prozeß ein Beweis dafür, daß man mit dem ganzen Fall wesentlich unaufgeregter hätte umgehen können, als es tatsächlich passierte. Der Hintergrund des Brandes hatte nichts Rassistisches. Vermutlich eher was ziemlich Tragisches, was auch an anderer Stelle mit anderen Beteiligten genauso hätte passieren können: schlechte Lebensverhältnisse, ungewisse Lebensperspektiven, Klassenprobleme eben. Zudem hat die Anklage gegen Safwan Eid erwiesen, daß der ganze juristische Apparat eben nicht so funktioniert hat, als müsse man zusehen, Safwan Eid so schnell wie möglich zu verurteilen. Sie hat das linke Weltbild nicht bestätigt.

Vogel: Um den rassistischen und ausgrenzenden Charakter der Ereignisse nach dem Anschlag einzuordnen, brauchte es keine vorgegebenen Weltbilder. Es genügte, die Realität ungeschönt wahrzunehmen.