Die Nächte der Tout-Loser

Proteste und Riots nach der Erschießung eines Jugendlichen durch die Polizei in Toulouse

Die Siedlung Mirail am Rande von Toulouse ist eine für Frankreich typische Trabantenstadt. Jenseits des Autobahnrings gelegen, der den Stadtrand der südwestfranzösischen Regionalmetropole markiert, besteht die Cité vor allem aus Plattenbauten und Hochhaustürmen. Rund 40 000 Menschen leben hier neben- und übereinander. Mirail ist keine besonders scheußlich wirkende Banlieue; neben dem üblichen grauen Beton gibt es immerhin auch ein paar Grünflächen.

Kein Vergleich also mit den endlosen Betonwüsten der Pariser und Lyoner Banlieues. Dennoch konzentrieren sich auch hier die sozialen Probleme in ähnlicher Weise wie in allen vergleichbaren Siedlungen: 40 Prozent der Bewohner sind arbeitslos, und 86 Prozent aller Sozialhilfeempfänger des Départements, das von Toulouse bis hinunter zur spanischen Grenze reicht, leben hier auf engem Raum. In die Trabantenstadt werden all die abgeschoben, die man anderswo nicht haben will, die angesichts der sozialen Krise keine realistische Chance auf eine berufliche Perspektive haben, darunter ein hoher Anteil von Immigranten. Mirail war in der letzten Woche der Hauptschauplatz der Unruhen, die einmal mehr - kurzfristig - die französischen Banlieues in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt haben.

Die jüngste Serie von Riots in den französischen Banlieues begann allerdings nicht in Toulouse, sondern in der südöstlichen Banlieue von Paris, in Dammarie-les-Lys. Am vorletzten Samstag, gegen 22 Uhr abends, war dort zunächst ein Polizeiauto von einer größeren Gruppe Jugendlicher mit Steinen und Molotowcocktails beworfen worden. In der folgenden Stunde gingen ein halbes Dutzend Autos in Flammen auf, bevor die heranrückende polizeiliche Verstärkung dafür sorgte, daß sich die mittlerweile rund 100 Personen zählende Menge zerstreute.

Anlaß für die Vorfälle war der bevorstehende Todestag von Abdelkader Bouziane, der am 16. Dezember 1997 im Alter von 16 Jahren von der Polizei erschossen worden war. Der Jugendliche war damals mit einem Freund nachts am Steuer eines gestohlenen Wagens auf eine Polizeisperre zugerollt. Die Beamten hatten das Feuer eröffnet, und zwar, wie es offiziell hieß, aus Notwehr, weil das Auto mit 150 Stundenkilometern auf sie zugerast sei und sie sich bedroht gefühlt hätten. Vor zwei Wochen ist der Ermittlungsbericht des Untersuchungsrichters veröffentlicht worden. Demnach fuhr das Fahrzeug lediglich 36 Stundenkilometer.

Ein gestohlenes Auto und polizeiliche Todesschüsse waren auch die Ursache für die heftigen Unruhen, die nur einen Tag später in Toulouse ausbrachen. Am vorletzten Sonntag gegen 3 Uhr morgens entdeckte eine Polizeistreife zwei Jugendliche, die versuchten, einen Golf GTI wieder flottzubekommen, den sie zuvor aufgebrochen und für eine Fahrt "ausgeliehen" hatten. Zwei der vier Insassen des Polizeifahrzeugs feuerten aus ihrer Waffe. Während der begleitende "Hilfspolizist" - der seinen Militärdienst in den Reihen der Ordnungswächter ableistet - einen Schuß in die Luft abgab, feuerte der Leiter der Polizeistreife auf den 17jährigen Habib, Sohn algerischer Immigranten. So jedenfalls rekonstruiert die polizeiinterne "Generaldienst-Inspektion" die Ereignisse. Habib wurde in die Lunge getroffen und konnte sich noch rund 100 Meter weiter unter ein Auto schleppen, wo seine Leiche gegen 6 Uhr morgens von einer Passantin entdeckt wurde. Unterdessen kehrten die vier Polizeibediensteten nach eigenen Angaben zur Wache zurück, wo sie es tunlichst unterließen, von den gefallenen Schüssen Meldung zu machen. Die Aussage des zweiten Jugendlichen, eines 16jährigen, ebenfalls mit dem Namen Habib, vermittelt ein anderes Bild des Hergangs. Habib, der sich aus Angst davor, von der Polizei "aus dem Weg geschafft zu werden", erst am Mittwoch letzter Woche dem Untersuchungsrichter stellte, erklärte, die Beamten hätten am Tatort noch rund 20 Minuten nach ihm gesucht; er habe sich zu dieser Zeit im Gebüsch versteckt gehalten. Trifft diese Darstellung zu, gibt es keinen Grund, warum die Polizisten auf der breiten und gutbeleuchteten Avenue nicht zugleich gesehen haben sollten, wie der lebensgefährlich verletzte Habib sich die Straße entlangschleppte. Zwei der vier Beamten sollen verschiedenen polizeilichen Darstellungen zufolge später noch an den Tatort zurückgekehrt sein, um eventuelle Spuren zu beseitigen.

Nachdem der Todesschütze am Dienstag abend wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, verschärften sich die Auseinandersetzungen in den Banlieues von Toulouse, wo es bereits am Sonntag abend erste Unruhen gegeben hatte. Während am Dienstag tagsüber rund 2 500 Jugendliche friedlich im Stadtzentrum von Toulouse demonstrierten, kam es am Abend erneut zu heftigen Zusammenstößen in den Cités. Die Bereitschaftspolizei CRS mobilisierte 800 Beamte. Während die Polizisten mit Tränengas-Granaten gegen die Hochhausblöcke zielte, wurden sie von den Außentreppen herab mit Wurfgeschossen, Stahlkugeln und Molotowcocktails empfangen.

Am Mittwoch vergangener Woche kehrte vorübergehend wieder Ruhe in der Banlieue ein. Ein Teil der Medien konzentrierte sich unterdessen auf ein einziges Detail: Eine algerische Fahne, die Jugendliche am Dienstag während der Demo im Stadtzentrum an der Präfektur angebracht hatten, war der Anlaß, um mehr oder minder unverhüllt von einem "ethnischen" Problem zu sprechen - so die rechtsextreme Tageszeitung Présent, so das konservative Wochenmagazin Le Point. Der konservative Figaro stimmte in den Chor ein: "Die Aufruhrnächte von Toulouse zeigen auf brutale Weise das Problem der Immigration auf." Bereits am Freitag vergangener Woche sorgte der Besuch des sozialistischen Ministers für Stadtentwicklung, Claude Bartolone, in Toulouse, der ursprünglich für Montag geplant, wegen der gewalttätigen Auseinandersetzungen aber verschoben worden war, erneut für Unruhen. Die Jugendlichen aus Mirail hatten vergeblich versucht, zu einem Gespräch mit Bartolone vorgelassen zu werden. Auch die Eltern-Vertreter aus der Hochhaussiedlung, die auf den Hauptplatz von Toulouse gekommen waren, warteten vergeblich auf den Minister. Am selben Abend, Bartolone war bereits wieder abgereist, kam es in den Cités erneut zu Unruhen, in deren Verlauf gegen 20 Uhr in der Siedlung "Bagatelle" zwei Gewehrschüsse auf einen Polizisten abgegeben wurden. Der Beamte mußte mit einer Schußverletzung an der Schulter ins Krankenhaus eingeliefert werden, seine Vorgesetzten sprachen am späteren Abend von einem "echten Hinterhalt" und "Schüssen, die abgegeben worden sind, um zu töten".

In der Nacht zum Samstag war auch die Lyoner Trabantenstadt Duchère Schauplatz von Riots; hier kam es anläßlich des Todestags eines Jugendlichen zu militanten Ausschreitungen. Der 24jährige Fabrice Fernandez war im Dezember des Vorjahres auf einer Polizeiwache erschossen worden, nachdem er wegen eines belanglosen Streits im Viertel festgenommen worden war. Schließlich kam es in der Nacht zum Sonntag auch noch in Lothringen in zwei Gemeinden nahe der Stadt Longwy zu Unruhen. In Rehon zündeten Jugendliche eine Apotheke an. Der Besitzer hatte im November einen von zwei Einbrechern erschossen. Vor rund zwei Wochen war er wieder auf freien Fuß gesetzt worden. In Mont-Saint-Martin schlugen jugendliche Demonstranten Schaufenster ein und setzten Autos in Brand.