Ins sichere Kurdistan

Das Bundesverwaltungsgericht erklärt den Nordteil Iraks zum Zufluchtsort für alle Iraker

Ganze zwei Tage brauchten Agenten des irakischen Geheimdienstes im Frühjahr 1996, um einen ranghohen irakischen Offizier zu finden und zu ermorden, der in den Nordirak desertiert war - obwohl die kleine kurdische Partei, bei der er um Schutz nachgesucht hatte, dem Mann drei Leibwächter zur Verfügung gestellt hatte. In Sulemaniyah zeigte sich niemand über den Anschlag verwundert, denn dort ist bekannt, daß Husseins Sicherheitskräfte in Nordirak fast ungehindert zuschlagen können, auch wenn der Landesteil seit 1991 unter kurdischer Selbstverwaltung steht.

Saddam Husseins Geheimdienste gehören zu den effektivsten und schlagkräftigsten des Nahen Ostens. Nicht ohne Stolz blicken die sieben nebeneinander operierenden Dienste auf die fundierte Ausbildung zurück, welche ihre Offiziere in den achtziger Jahren unter anderem beim BND und der DDR-Staatsicherheit erhielten. Für Flüchtlinge und Oppositionelle aus dem Zentralirak ist die Bedrohung durch irakische Geheimdienste auch in Irakisch- Kurdistan alltägliche Realität.

Völlig anders schätzt das Bundesverwaltungsgericht die Lage im Nordirak ein. In einem Urteil stellte es am 8. Dezember fest, daß "die faktisch autonomen Kurdenprovinzen für solche Iraker, die im (zentralstaatlichen) Machtbereich des totalitären Regimes von Saddam Hussein politisch verfolgt werden, als inländische Fluchtalternative in Betracht kommen. Politisch Verfolgte aus dem Irak erhalten deshalb in Deutschland kein Asyl, wenn im Einzelfall feststeht, daß sie im Nordirak eine zumutbare Zuflucht finden können."

Kurden aus dem Irak bilden in der BRD seit Jahren eine der größten Flüchtlingsgruppen, deren Anerkennungsquote zudem bei bis zu 80 Prozent lag. Im März 1997 nahm sich das Bundesinnenministerium dieses Problems an und fragte beim Auswärtigen Amt nach, ob der Nordirak nicht insbesondere für kurdische Flüchtlinge als "inländische Fluchtalternative" angesehen werden könne. Das AA verstand und handelte: Seitdem wird Irakisch-Kurdistan in den zwei- bis dreimal jährlich erscheinenden Lageberichten schöngeschrieben. Die Berichte des UN-Menschenrechtsbeauftragten Max von der Stoel, in denen regelmäßig Übergriffe irakischer Sicherheitskräfte auf kurdischem Gebiet beschrieben werden, bezeichnen die Verfasser der Lageberichte als "eher dürftig".

Die Neudefinition Nordiraks als inländische Fluchtalternative und eine damit einhergehende restriktivere Entscheidungspraxis des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge führten zu dem gewünschten Erfolg: Ohne daß sich an der Lage im Irak irgend etwas geändert hatte, sank die Anerkennungsquote für irakische Kurden bis Mai 1998 auf 23 Prozent. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes ist also nur der jüngste Teil eines Prozesses, in dessen Verlauf der Anspruch irakisch-kurdischer Flüchtlinge auf Asyl Schritt für Schritt ausgehöhlt wurde.

Dazu mußten nicht wenige rechtliche Klippen umschifft werden. Immerhin stellt das irakische Strafgesetzbuch das Stellen eines Asylantrages ebenso unter Strafe wie das "illegale Verlassen des Landes". Diese Tatbestände können mit einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und mehr, in "schweren Fällen" sogar mit der Todesstrafe geahndet werden. Das allein ist eigentlich Grund genug, Iraker in der BRD als politische Flüchtlinge anzuerkennen.

Statt dessen arbeiten Justiz und Bundesamt an einer Strategie, deren einziges Ziel es ist, Asylanträge irakischer Kurden ablehnen zu können, um sie früher oder später in ihre Heimat abzuschieben. So argumentierte etwa der am afghanischen Beispiel geschulte Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 18. August, es gebe "im Nordirak derzeit (keine) organisierte effektive und stabilisierende territoriale Herrschaft (...) und zwar weder seitens des Irak noch seitens der im Nordirak bestehenden Gruppierungen." Diese Argumentation würde es zwar ermöglichen, praktisch alle Flüchtlinge aus dem Irak abzuschieben; sie hat aber den Haken, daß die beiden großen Parteien KDP und PUK im Nordirak auf lokaler Ebene durchaus funktionsfähige Behörden unterhalten, die, wenn es um humanitäre Hilfe geht, auch als Ansprech- und Kooperationspartner akzeptiert werden. Andererseits bleibt unklar, wie Kurden, die im Fadenkreuz irakischer Geheimdienste stehen, im Nordirak vor Übergriffen geschützt werden sollen. Dieser Widerspruch kam einem weiteren Kurden zugute, dessen Fall vor dem Verwaltungsgericht Ansbach verhandelt wurde. Dieses erkannte im Sommer zwingende Abschiebehindernisse an, weil kurzfristig ausbleibende Verfolgungsmaßnahmen "keine Prognose für die Zukunft" der Lage im Nordirak erlaubten, der von daher keine langfristige Fluchtalternative darstelle.

Diese Schwierigkeiten im Blick, versuchten andere Gerichte, gestärkt durch das Auswärtige Amt, die kurdischen Parteien im Nordirak zu "staatsähnlichen" Gebilden zu erklären. Der Vorzug dieser Sichtweise ist offenkundig: Bieten die Parteien Schutz vor irakischen Übergriffen, dann kann bedenkenlos in den Nordirak abgeschoben werden. Zudem könnte man dann direkt mit Vertretern beider Parteien in Verhandlungen über eine Rücknahme der Flüchtlinge treten und so vielleicht die Türkei überzeugen, endlich als Transitland für Abschiebungen zur Verfügung zu stehen. Denn alle Bemühungen, Abschiebungen in den Nordirak rechtlich zu ermöglichen, haben solange keine praktischen Konsequenzen, wie sich Ankara, aus Angst selbst am Ende auf den "Schüblingen" sitzen zu bleiben, weigert, bei Abschiebungen zu kooperieren. Dem Argument, der Nordirak sei eine sichere Fluchtalternative, scheint sich das Bundesverwaltungsgericht zumindest partiell anschließen zu wollen. Neu ist, daß das Gericht den Nordirak jetzt auch noch als Zufluchtsmöglichkeit für im Zentralirak Verfolgte betrachtet. Noch ist die Beurteilung der Lage im Nordirak für das Bundesverwaltungsgericht zu uneinheitlich, um ein abschließendes Urteil zu fällen. Doch schon in Kürze könnte ein solches Urteil die Handhabe bieten, um noch restriktiver gegen irakische Flüchtlinge vorzugehen.