Tramspotting

Gefährliche Orte L: Es gibt doch noch Ereignisse in Berlin. Nach 32 Jahren fährt die Straßenbahn wieder über den Alexanderplatz.

Die Oberleitung an der Haltestelle Hackescher Markt ist festlich mit Wimpeln der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) geschmückt, und auch die Einweihungsstraßenbahnen sind prächtig mit Girlanden aufgeputzt. Eine neue Straßenbahntrasse soll eingeweiht werden.

"Nun müssen die Berlinerinnen und Berliner nicht mehr am Rosa-Luxemburg-Platz umsteigen", verkündet Rüdiger vorm Walde, der Vorstandsvorsitzende der BVG, und er hört sich dabei an, als hätte sein Unternehmen gerade die Bratkartoffeln erfunden. Noch ganz viele Kilometer Straßenbahnschienen würden bald hinzukommen, fährt vorm Walde euphorisch fort, was einem schnauzbärtigen Mittdreißiger im Publikum allerdings nicht besonders imponiert: "Wenn dit in den Tempo so weiterjeht, dann kann dit dauern." Doch vorläufig sind es die rund dreihundert schaulustigen Trainspotter, die die Schienen und den Fortgang der Zeremonie blockieren.

Auch wenn Einweihungszeremonien wegen des allgemeinen Grundstein-Dachstuhl-Entwurf-Overloads eigentlich nicht mal mehr das Regionalfernsehen aus den Stuben locken - gibt es immer noch zwei Ausnahmen: zentrale Plätze in der Mitte und die Straßenbahn. Das erste wegen Hauptstadt und neuer Mitte und das zweite: Nun ja, an der Berliner Straßenbahn scheiden sich eben die Geister. Und wo es was zu motzen gibt, ist man immer gerne dabei.

Wenn ein Autofahrer an einer Haltestelle nicht anhält, um die Fahrgäste aussteigen und vorbei zu lassen, kann er sicher sein, daß ihm so etwas wie "Scheiß Wessi, noch nie 'ne Bahn jesehn, oder wat?" hinterher gerufen wird. Im Westen gibt es nämlich keine Tram mehr, im Osten aber doch. Und wenn beides zusammenkommt, Mitte und Straßenbahn, dann versammeln sich schon mal ein paar hundert Berliner, um sich anzuschauen, wie die Stadt jetzt auch Verkehrshauptstadt wird. Und wenn es auch nur knapp drei Kilometer neuer Strecke sind.

Schließlich kommt die erste Bahn mit festlicher Girlande auf dem Dach doch noch bis zum Bahnsteig der Haltestelle. Als sie gestürmt worden ist und bevor sie ihre ersten öffentlichen Meter hinter sich bringen kann, bratzen auf einmal "Die lustigen Preußen" los - eine Blaskapelle, die uniformiert und fröhlich den Verkehrsklassiker intoniert: "Muß i denn (zum Städtele hinaus)". Was also tun? Die nächste Bahn nehmen oder warten und auf den Nostalgiezug spekulieren? Schnipp, ein Band wird durchgeschnitten, und die Bahn fährt los. Wer bisher glaubte, Trainspotter gebe es nur in Nordengland, kann heute eines Besseren belehrt werden. Wo immer es Frührentner und schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose über fünfundfünfzig gibt, gibt es auch Trainspotter. Aber Trainspotter sind nicht nur Menschen mit grauen Windjacken, einem Homburghut auf dem Kopf, der Kamera vor dem Bauch und bequemen Schuhen an den Füßen - es gibt auch Trainingsjacken tragende Studenten oder lederbejackte Endzwanziger mit kompliziert geschnittenen Bärten. Eisenbahnfreunde aller Altersklassen und aus allen Bezirken haben sich zwischen Hackeschem Markt und Alexanderplatz aufgestellt. Fast sieht es so aus, als sei der ideelle Gesamtberliner ein Trainspotter.

Vorläufig warten die ganz hartgesottenen Eisenbahnfreunde auf den Traditionszug. Ein Wagen, der wahrscheinlich schon über den Alexanderplatz gejuckelt ist, bevor die Straßenbahnschienen dort vor 32 Jahren abmontiert wurden. Und drinnen werden sie dann noch härter gekocht. "Der Traditionszug hat jar keene Orijinalschilder, is ja allet neu", mault einer, der nicht mehr hineinpaßt. Dann also in einen modernen Niederflurwagen. Dort häufen sich die Trainspotterspäße. Einer ruft: "Die Fahrkarten, bitte", und der Rest lacht sich schlapp. Los geht's. Die Bahn fährt die 2,9 Kilometer hinunter, die neu eingeweiht werden. Sie gehen vom Hackeschen Markt, dem Gravitationszentrum von Spektakelberlin 2000, zum Alexanderplatz, diesem Raumungetüm sozialistischen Ausmaßes im Zentrum des Ostens.

Die neue Strecke führt vorbei an einem sechs Meter großen Ronald McDonald, der auf dem Dach der Fastfoodfiliale sitzt, zwischen den beiden Behrendsbauten hindurch, der eine renoviert, der andere verfallen, und geht dann quer über die Ostseite des Platzes, die bisher immer etwas unnütz zwischen den Straßen herumlag, und jetzt auf einmal aufgewertet wird. Weiter fährt man über die Karl-Marx-Allee, vorbei am Sitz des Landeskriminalamts mit der Bärenmenü-Kantine im Erdgeschoß, zur Mollstraße. 68,5 Millionen Mark hat die Strecke gekostet, 23,6 Millionen pro Kilometer, mehr als irgendeine andere Trasse in Berlin.

So teuer war sie vor allem, weil niemand weiß, wie es ab dreißig Zentimeter Tiefe unter dem Alexanderplatz wirklich aussieht. Verläßliche Karten gibt es nicht. So liegen hier Telefon- und Stromleitungen, Wasserleitungen, Abflußrohre und unglaubliche Mengen Beton, ohne ordnungsgemäß kartographiert zu sein. Die Kühlwasserleitung des Fernsehturms beispielsweise war nirgends eingezeichnet und mußte prompt dran glauben, als sie von einem Bagger zerteilt wurde. Und nicht nur das: Unter einer Straße taten sich ungeahnte Hohlräume auf, die von vergessenen Kellern rührten, deren Überbauten einer Straße weichen mußten, aber nie aufgefüllt wurdenm und von deren Existenz niemand wußte.

Und genau darüber stehen jetzt überall Gruppen alleinstehender Männer mit ihren Fotoapparaten, Videokameras, Stativen und Objektivtaschen. An jeder Ecke gibt es mindestens ein Dutzend, auf den geraden Strecken wagen sich manchmal ganz Mutige auf die Schienen, um die Bahn herankommen und sie dann von schräg unten an sich vorbeirauschen zu lassen. "Das ist die Jungfernfahrt", murmelt eine Trainspottergattin und schaut aus dem Fenster. Am Alex schließlich werden die Bahnen, übertreiben wir ruhig, von der größten Menschenansammlung auf dem Platz seit dem Herbst 1989 erwartet. Mehrere hundert Eisenbahnfreunde erwarten die Jungfernfahrtbahnen mit freudigem Applaus. "Da kann man nich meckern", sagt ein Trainspotter. Kann man natürlich doch. Zum Beispiel die grünen Motzberliner haben sich eingefunden und geben unter dem Slogan "Klemann macht die Bahn zur Schnecke" zu Protokoll, worüber sie sich beschweren wollen. Daß der Verkehrssenator den zügigen Ausbau der Straßenbahn blockiere und daß es keine grüne Welle für die Straßenbahnen gebe.

Doch auch die Trainspotter selbst finden nicht alles gut, nur weil es auf Schienen rollt. "Hier 'ne Ampel, da 'ne Ampel", fachmännisch wird die Streckenführung über die Karl-Marx-Allee begutachtet und für schlecht befunden. Außerdem sind die Steinblöcke, die zwischen den Schienen eingelassen sind, noch nicht verfugt. "Wenn ick mir dit so ankieke - brauch' sich niemand wundern, dat dit nischt wird mit den neuen Balin." Das BVG-Orchester spielt dazu schmissige Melodien in der Glenn Miller-Nachfolge, und es gibt Bratwürste.

Um sich die Zielgruppen-Überschneidung zwischen Straßenbahnfreunden und Briefmarkensammlern zunutze zu machen, hat sich auch die Deutsche Post mit einem Verkaufswagen eingefunden. Dort kann man nicht nur den Sonderstempel zur Streckeneröffnung aufgestempelt bekommen, auch der "50 Jahre Luftbrücke"-Gedenkbrief ist zu haben. Zurück am Hackeschen Markt hat sich die Lage dann wieder beruhigt. Die neue Streckenführung funktioniert noch nicht so, wie sie sollte, und während die einen BVGler den gelben Teppich von den Gleisen rollen, sitzen kopfschüttelnde Straßenbahnfahrer in ihren Fahrerkabinen, weil zehn Bahnen kreuzdiequer durcheinanderstehen und niemand vorwärts kommt.