Was sonst nur mit Kaninchen möglich war

Obwohl sich Hans Münch selbst als Mörder geoutet hat, gehen die Ermittlungen gegen den Auschwitz-Arzt nur schleppend voran

Noch Mitte der achtziger Jahre tourte Hans Münch durch die Bundesrepublik, um sich auf Diskussionsveranstaltungen als Retter zahlloser Auschwitz-Häftlinge feiern zu lassen. Als Persilschein diente dem einstigen KZ-Arzt und Kollegen von Josef Mengele ein Urteil des Obersten Polnischen Nationalgerichts: Als einziger von 40 Angeklagten war Münch 1947 im Krakauer Auschwitz-Prozeß freigesprochen worden - das Gericht hatte dem KZ-Arzt bescheinigt, er sei den Häftlingen gegenüber wohlwollend eingestellt gewesen, er habe "ihnen geholfen und sich selbst dabei gefährdet".

Stützen konnten sich die polnischen Richter dabei auf Aussagen von Häftlingen wie etwa Professor Geza Mansfeld - in Auschwitz Münchs wissenschaftlicher Mitarbeiter. Münch habe "weit über die üblichen Gesetze der Menschlichkeit hinaus Gutes getan", so Mansfeld. Dem KZ-Arzt retteten diese Darstellungen den Kopf. Am 22. Mai 1947 wurde er nach zehnmonatiger Untersuchungshaft in die Freiheit entlassen. Heute lebt der 87jährige in Roßhaupten am Forggensee im Allgäu.

Inzwischen allerdings scheint klar zu sein: Die polnischen Richter hätten den KZ-Arzt wohl besser nicht freigesprochen. Willi Dreeßen, Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg, zweifelte schon früh am Mythos vom guten Menschen Münch - spätestens seit 1985, als er gemeinsam mit dem KZ-Arzt an einer Diskussionsveranstaltung über Auschwitz teilnahm: "Er hat dabei immer wieder betont, wie gut er sich mit seinen Ärzte-Kollegen - auch mit Josef Mengele - verstanden hat", erzählt Dreeßen heute. "So etwas konnte ich nicht akzeptieren. Mir kam das schon damals seltsam vor." Auch bei der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main herrschten Zweifel über Münchs Unbescholtenheit. Mehrfach wurde gegen ihn ermittelt: Erstmals in den sechziger Jahren, dann noch einmal 1980. Beide Verfahren wurden mangels Beweisen wieder eingestellt.

Erst vor kurzem haben die Frankfurter jedoch erneut ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Anlaß dafür waren Nachforschungen der Gauck-Behörde in Berlin. Diese war bei ihren Untersuchungen in Sachen Stasi auf bislang unbekannte Auschwitz-Dokumente gestoßen. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft begann daraufhin erneut mit Ermittlungen gegen Münch, auch wenn konkrete Anhaltspunkte über seinen Aufenthalt im Vernichtungslager bis jetzt nicht zutage gefördert werden konnten.

Das ist allerdings auch gar nicht mehr notwendig. Denn der Bakteriologe, der schon als Medizinstudent Politischer Leiter der Reichsstudentenführung gewesen war und am 1. Mai 1937 der NSDAP beitrat, hat sich inzwischen selbst ausgiebig belastet: Münch gab dem Spiegel ein ausführliches Interview, das im September veröffentlicht wurde und in dem er in geradezu unverschämter Offenheit über seinen 19monatigen Aufenthalt in Auschwitz berichtete. Nebenbei räumte er gleich selbst mit der Legende vom Menschen- und Häftlingsfreund Münch auf: "Ich konnte an Menschen Versuche machen, die sonst nur an Kaninchen möglich sind. Das war wichtige wissenschaftliche Arbeit", erklärte Münch dem Spiegel-Reporter bei Kaffee und Kuchen, nicht ohne die Verhältnisse im Lager zu loben: "Das waren ideale Arbeitsbedingungen, eine exzellente Laborausrüstung und eine Auslese von Akademikern mit weltweitem Ruf."

Daß diese Akademiker - darunter laut Münch "die besten Wissenschaftler des Pasteur-Instituts und hochausgebildete Fachleute europäischer Universitäten" - als Juden zur Vernichtung nach Auschwitz gebracht worden waren, kümmerte den KZ-Arzt wenig: "Wir haben sie gepflegt, die spurten, die standen stramm, daß es nur so klapperte."

Auch der Völkermord im Lager bereitet dem Mediziner, der sich freiwillig nach Auschwitz hatte versetzen lassen, um dem langweiligen Schicksal eines allgäuischen Dorfdoktors zu entgehen, bis heute kein Kopfzerbrechen: "Juden auszumerzen, das war eben der Beruf der SS damals", so Münch. "Sie müssen wissen, das Umbringen von Leuten, das war so selbstverständlich wie, daß man um soundsoviel Uhr das und das zu tun hat. Man gewöhnt sich an den Alltag in Auschwitz. Auch wenn es exzessiv ist. Das geht ganz schnell, zwei, drei Tage." Münch gefiel das Lagerleben so gut, daß er auch gegen den Willen seiner Frau in Auschwitz blieb.

Die von ihm so gepriesenen Arbeitsmöglichkeiten nutzte der Bakteriologe für grausame Experimente: Er infizierte Häftlinge mit Malaria - "zur Seuchenbekämpfung" -, riß ihnen Zähne heraus, um an vereiterte Zahnwurzeln heranzukommen, oder spritzte ihnen Eiter in die Zahnwurzeln. Alles natürlich im Dienste der Wissenschaft, schließlich wollte Münch den Zusammenhang zwischen vereiterten Zahnwurzeln und Rheumatismus nachweisen. Nebenbei untersuchte er für seinen Mörder-Kollegen Josef Mengele abgetrennte Kinderköpfe oder auch Leber und Rückenmark von getöteten Häftlingen - "was eben so anfiel".

Für Mengele selbst hat Münch nur Lob übrig: Der sei ihm "absolut in jeder Weise der Sympathischste" gewesen, ganz im Gegensatz etwa zu einem anderen KZ-Arzt: Dr. Carl Clauberg - ein, so Münch, widerlicher Mensch, "hat ausgeschaut wie ein Jud". Überhaupt läßt Münch nur wenig Zweifel daran, wie sehr er noch heute hinter der Rasse-Ideologie der Nazis steht. Die sogenannten Ostjuden sind für ihn nach wie vor "ein furchtbares Gesindel": "Die waren so dressiert auf Servilität, daß man sie als Mensch gar nicht mehr qualifizieren konnte."

Neben derartigen volksverhetzenden Ausfällen, dürfte für die strafrechtliche Verwertung des Spiegel-Interviews jedoch vor allem eines interessant sein: Münch bekennt sich hier erstmals dazu, selbst Selektionen vorgenommen zu haben - etwas, das er bisher stets weit von sich gewiesen hatte. Doch natürlich geriert er sich auch dabei noch als großzügiger Menschenfreund: "Selektionen habe ich nur freiwillig gemacht, eben in solchen Fällen, wo ich engagiert war, und wo ich Leuten einen Gefallen tun konnte, daß sie nicht die nächsten 14 Tage überleben müssen."

Münch wollte selbst keinen Zweifel lassen: "Ja, natürlich bin ich ein Täter. Ich habe viele Leute gerettet. Dadurch, daß ich ein paar Leute umgebracht habe." Daß dem 87jährigen zu seinem Lebensende hin noch ein paar Monate oder Jahre in deutschen Gefängnissen blühen werden, ist trotzdem fraglich. Zwar legten die deutschen Justizbehörden, kaum war der Spiegel-Bericht erschienen, emsige Betriebsamkeit an den Tag - so leitete die Ludwigsburger Zentralstelle eine Vorermittlung ein und auch das bayerische Justizministerium veranlaßte ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren.

Doch trotz eines Protestschreibens des Simon-Wiesenthal-Zentrums an die bayerische Staatsregierung, in dem die sofortige Verhaftung Münchs gefordert wird, ist seitdem kaum etwas passiert. Das Münchner Ermittlungsverfahren wurde inzwischen lediglich von der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main übernommen - schließlich war man dort ja bereits mit Untersuchungen gegen Münch beschäftigt.

In den Stasi-Akten der Gauck-Behörde sei man bislang noch nicht fündig geworden, so Justizsprecher Job Tilmann. Jetzt habe man erst einmal den Spiegel um die Herausgabe der Tonbänder des Münch-Interviews gebeten. Erst auf Grundlage dieser Bänder soll dann geprüft werden, ob Münch von der Staatsanwaltschaft vernommen wird.