Michael Müller

»Atom-Ausstieg heißt Modernisierung«

"Gemeinsam mit der Energiewirtschaft sollen die Weichen gestellt werden für den Weg zu einem neuen, zukunftsfähigen Energiemix ohne Atomkraft", hatten SPD und Bündnisgrüne im Oktober in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben. Innerhalb der ersten 100 Regierungstage schon sollte eine Novelle zur Änderung des Atomgesetzes in den Bundestag eingebracht, die Entsorgung von radioaktiven Abfällen auf die direkte Endlagerung beschränkt werden. Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) hielt sich an den Zeitplan, legte einen solchen Entwurf Mitte Dezember dem rot-grünen Kabinett vor - und wurde von Bundeskanzler Schröder ausgebremst: Die Novelle müsse zunächst mit dem Wirtschaftsministerium abgesprochen werden, erklärte der Kanzler, das Ende der Wiederaufarbeitung des Atommülls könne zudem nur im Konsens mit den Energiebetreibern erfolgen. Der Beginn des Ausstiegs aus dem Ausstieg? Eine Woche später dann der nächste Streit: Trittin löste die beiden - bislang konzernfreundlichen - Atom-Beratungsgremien der Regierung auf, woraufhin Schröder seinem Umweltminister "wichtigtuerisches Gehabe" und "parteipolitische Symbolik" vorwarf. Michael Müller ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.

Drei Wochen vor Beginn der Konsensgespräche über einen Ausstieg aus der Atomenergie scheint es an Konsens zwischen Bundeskanzler Schröder und den Vorsitzenden der Atomkonzerne nicht zu mangeln. Streit hingegen gibt es innerhalb der Regierung: Zum ersten Sondierungsgespräch mit den Energiebetreibern lud Schröder Umweltminister Trittin gar nicht erst ein. Wären nicht zunächst einmal Konsensgespräche zwischen Schröder und Trittin angebracht?

Wir müssen natürlich alles tun, daß aus dem Ende der Kernspaltung nicht das Ende der Koalition wird. Dazu wird es auch nicht kommen. Wer nun zu diesen Gesprächen eingeladen wird und wer nicht - dafür bin ich nicht verantwortlich. Trotzdem glaube ich, daß eines inzwischen feststeht: Diese Bundesregierung will den Atomausstieg, und dieser wird auch zwischen den Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vereinbart werden - sicherlich im Konsens.

Der Streit zwischen Umweltminister Trittin und Wirtschaftsminister Müller geht dennoch weiter: Trittin will die Wiederaufarbeitung von Atommüll umgehend verbieten, Müller setzt auf den Konsens mit den Konzernen.

Es ist sicherlich so, daß da beide Seiten zu sehen sind. Auch in der Kommunikation ist da einiges nicht in Ordnung gewesen - das muß sich in Zukunft ändern. Aber ich will da jetzt gar nicht Schiedsrichter spielen, sondern nur feststellen, daß auch die Vorstellungen von Herrn Müller nicht völlig abwegig sind vor dem Hintergrund dessen, was für eine große Aufgabe das ist. Umgekehrt ist es legitim, wenn Herr Trittin einen Gesetzesentwurf vorlegt. Den muß man sich aber näher angucken, um dann in einem geregelten Verfahren darüber abzustimmen.

Mit der Rücknahme der von Trittin vorgelegten Atomgesetznovelle hat Schröder seinem Umweltminister die erste Niederlage beschert. Wird denn nun noch etwas aus der im Koalitionsvertrag vereinbarten Zeitregelung, das neue Atomgesetz vor Beginn der Konsensgespräche zu verabschieden?

In der Vereinbarung heißt es lediglich, daß es drei Schritte geben wird. Zunächst soll das Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes von 1992 eingebracht werden und - bereits parallel dazu - mit den Konsensgespräche begonnen werden. Die eigentliche Frage ist jedoch, ob es richtig ist, jetzt schon den wichtigsten Hebel für den Ausstieg - die ungelöste Entsorgungsfrage - aus der Hand zu geben, indem man über Zwischen- und Endlagerung Druck auf die Unternehmen ausübt. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich bis zum Ende durchdacht ist, bereits heute die Wiederaufbereitungsfrage so zu regeln, wie das im Augenblick geregelt werden soll.

Der Streit dreht sich außerdem darum, ob eine sofortige Kündigung der Wiederaufarbeitungs-Verträge mit den französischen und britischen Unternehmen zu Schadensersatzforderungen führt oder nicht. Müller sagt ja, Trittin nein ...

Ich kenne die Verträge nur begrenzt. Ich weiß, wie die völkerrechtlichen Verträge mit England und Frankreich aussehen. Allerdings sind dazu Anfang der neunziger Jahre Botschafternoten ausgetauscht worden, die ich nicht kenne, und in denen einiges geregelt sein muß - es ist dringend erforderlich, daß das alles auf den Tisch kommt. Ich gebe Herrn Trittin völlig recht, und das streitet auch Herr Müller nicht ab, daß es keine Entschädigungsproblematik zwischen den deutschen Energieversorgungsunternehmen und den beiden Wiederaufarbeitungsanlagen gibt. Offen bleibt, welche Konsequenzen die Kündigung der Verträge für den Rücktransport von Behältern hat. Ich weise nur darauf hin, daß in La Hague derzeit über 190 Atommüllbehälter lagern. Ich glaube nicht, daß unsere Republik derzeit 40, 50 Transporte aushalten würde.

Ob im Konsens mit den Konzernen oder nicht - profitieren würde die Atomindustrie von einer direkten Lagerung des Atommülls an den Kernkraftwerken allemal, weil die Kosten für die Transporte und die Wiederaufarbeitung wegfielen. Was ist denn daran - so der Vorwurf der Betreiber - konzernfeindlich?

Es ist unstrittig, daß die Auflösung der Wiederaufbereitung durch eine Zwischenlagerung im Interesse der Unternehmen ist. Man muß schon sehen, daß es sich bei manchem in der öffentlichen Diskussion um Trommelschlagen handelt. Das sollte alles mal auf den rationalen Kern zurückgeführt werden. Und zum anderen sollte man deutlich machen, was der Ausstieg an Chancen bietet. Ich glaube, daß die wesentliche Richtungsentscheidung für die Modernisierung der Energiesysteme der Ausstieg aus der Atomkraft ist. Es sind wohl eher die konservativen Beharrungsinteressen von großen Unternehmen, die das blockieren, und weniger die Politik.

Die Politik setzt dem dennoch kaum etwas entgegen. Durch Einführung eines "Zukunftspfennigs" will Wirtschaftsminister Müller den Atomkonzernen den Ausstieg auch noch finanzieren - die Zeche zahlt mal wieder der Verbraucher. Warum geht die Regierung derart pfleglich mit den Betreibern um?

Das ist ja nun leider die Realität in unserer Wirtschaftsordnung, daß letztlich der Verbraucher immer zahlt - so traurig das ist. Aber der entscheidende Punkt ist, wie die Neuordnung der Energieversorgung insgesamt aussieht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Bundestag darüber ohne eine klare Kostenrechnung entscheiden wird.

Aber was bleibt dann an Konsens noch übrig - außer dem zwischen Politik und Kapital?

Das werden wir abwarten. Es kommt natürlich darauf an, daß Konsens nicht nur bedeutet: Konsens mit den Atomenergieversorgern, sondern auch: Wiederherstellung des Energiefriedens in der Gesellschaft. Bundeskanzler Schröder hat mehrfach öffentlich erklärt, daß er auch die Umweltverbände, Verbraucherorganisationen und Gewerkschaften einbeziehen will. Deshalb kann ich diesen nur raten, jetzt sehr aktiv zu werden.

Sie fordern den Ausstieg "so schnell wie möglich". Wenn es auf die 20 oder mehr Jahre hinausläuft, die derzeit im Gespräch sind, kann davon ja kaum die Rede sein.

Das steht sogar im Regierungsprogramm. "So schnell wie möglich" ist natürlich eine Interpretationsfrage. Ich würde mir einen kürzeren Zeitraum wünschen und will auch alles tun, daß das möglich wird.

Außer der Abschaltung von zwei, höchstens drei veralteten Reaktoren wird doch in den nächsten vier Jahren nicht viel passieren.

Es waren auch schon Zahlen von sechs oder sieben im Gespräch - bisher ist mir nur eine allgemeine Formel bekannt. Aber es gibt eine ganze Reihe von technischen Ansatzpunkten: Schließlich darf man nicht vergessen, daß in der ersten Phase auch eine Sicherheitsüberprüfung stattfinden soll, die für die Betreiber ebenfalls mit bestimmten Konsequenzen verbunden ist.

Aber auch über diese Konsequenzen wird sich die Regierung sicherlich nur im Konsens mit der Atomindustrie einigen.

Ich sage es noch einmal: Zunächst kommt das Atomgesetz, das den bisherigen Förderzweck umdreht, und die Atomindustrie von einer zu fördernden zu einer zu beendenden Industrie erklärt. Damit wird eine Richtungsentscheidung getroffen. Dann geht es um Gespräche, wobei gar nicht sicher ist, daß das Konsensgespräche werden. Wenn das nämlich nicht klappt, dann wird nach einem Jahr, das ist ja festgelegt, der Ausstieg gesetzlich geregelt.