Castor-Krieg um die Strahlenschleuder

Bei dem deutsch-französischen Konflikt um die Wiederaufarbeitung in La Hague steht die Zukunft der Atomindustrie auf dem Spiel

Wie siamesische Zwillinge agieren französische und deutsche Atomunternehmen seit vielen Jahren - sie sind zwar nicht mit den Köpfen, aber an den Hüften miteinander verwachsen und so voneinander abhängig.

Gleiches gilt für die Politik. Jetzt aber will Atomminister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) sich aus dem Wiederaufbereitungsprogramm für abgebrannte deutsche Reaktorbrennelemente im französischen La Hague verabschieden, um sich von dieser Symbiose zu lösen. Den Atomkonzernen und Politikern ist sehr wohl bewußt, daß damit der Exitus sowohl der deutschen als auch der französischen Atomwirtschaft eingeleitet würde. Die Nuklearvertreter in Politik und Wirtschaft versuchen darum derzeit länderübergreifend, in den Medien die Worst-Case-Perspektive zu projizieren.

Mehr als 180 deutsche Atommüllbehälter müßten schleunigst nach Deutschland zurückverfrachtet werden, eine Welle von 50 bis 60 Atomtransporten stünde an, wenn Trittin mit dem Ausstieg aus der Wiederaufbereitung ernst machen wolle, zitierte die Neue Osnabrücker Zeitung kürzlich "die französische Seite" - ein bundesweiter Castor-Krieg, der Bruch der Rot-Grün-Koalition drohe, das schwang unausgesprochen mit. Nur Tage darauf meinte der Atomlobbyist Eberhard Meller von der Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Trittins Pläne verursachten "erhebliche außenpolitische Verstimmungen" und "finanzielle Belastungen".

Der französische Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn forderte anschließend seinen Amtskollegen Werner Müller auf, die Wiederaufbereitungsverträge zwischen dem französischen Staatskonzern Cogema und den deutschen Reaktorbetreibern fortzuführen. "Anfang Januar" sollten wieder Atomtransporte stattfinden, verlangte Strauss-Kahn in einem Brief an Müller. Trittin betonte hingegen, die deutsche Atomwirtschaft habe diesen Brief selber bestellt. Zudem sei nicht Müller, sondern er der korrekte Adressat und zuständig für Atomtransporte. Im übrigen sind nach EU-Recht für Transporte mehrwöchige Vorankündigungen zwingend.

Doch schon warf Rainer Dücker, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats des Atomkonzerns PreussenElektra, Trittin vor, 40 000 Arbeitsplätze zu gefährden. Er werde das nicht tatenlos hinnehmen, drohte Dücker, geradeso, als habe er jetzt Fackelzüge, Brücken- und AKW-Besetzungen im Sinn. Und sein Kollege vom Atomkonzern RWE, Alwin Fitting, pflichtete ihm vor Weihnachten bei: Trittin sei "ein eiskalter Manager" von "unerträglicher Arroganz". Allerdings hatte gerade Dückers und Fittings Tatenlosigkeit gegenüber kontaminierten Atomtransporten - über viele Jahre hinweg und mit Wissen ihrer eigenen eiskalten Konzernmanager - Trittins Handlungsspielraum erweitert. Aber davon ist schon lange nicht mehr die Rede.

Was aber steht hinter dieser Eskalation des deutsch-französischen Nuklearkonflikts? La Hague als zentraler Empfänger europäischen und japanischen Atommülls bringt Frankreich jedes Jahr Milliarden Francs respektive Euro in die Staatskasse. Die Anlage war jedoch noch nie nur für Frankreichs Atomkraftwerke und Atombombenprogramme vorgesehen, denn die Kapazitäten für die Müllverarbeitung gehen weit darüber hinaus. La Hague kann somit als international betriebene Anlage betrachtet werden, zumal die deutsche Nuklearindustrie sogar ihren Ankauf plante.

Die französische Öffentlichkeit wurde allerdings nie über den dortigen "Normalbetrieb" auch nur annähernd informiert. Erst die Skandale über die Atommüllverklappung ins Meer, über die kontaminierten Atomtransporte, über illegal in La Hague lagernde Atommüllberge provozieren in der Bevölkerung Frankreichs jetzt neue Fragen: "Soll man aus der Atomenergie aussteigen?" wollte das konservative Wochenmagazin Le Point Ende vergangenen Jahres wissen - ein "Tabubruch in Frankreich", wie der alternative Nobelpreisträger Mycle Schneider vom Energieinstitut Wise in Paris einschätzt.

Die Regierung Jospin steht unter Druck: Wann wird der ausländische Müll endlich zurücktransportiert? Die grüne Umweltministerin Dominique Voynet will die Transporte schnellstmöglich auf die Reise schicken und macht damit öffentlich Punkte. Aber sie will auch gemeinsam mit Trittin und gegen Strauss-Kahn die Wiederaufbereitung beenden. Ein heikles Thema für den deutschen Umweltminister: Jede Transportgenehmigung bedeutet Negativschlagzeilen, und gegen das Ende der Wiederaufbereitung macht die politische und wirtschaftliche Nuklearlobby mobil.

Vorteilhaft ist für die Atomgegner in den Ministerien jetzt vor allem, daß Belgien (55 Prozent Atomstromanteil am Stromverbrauch) die neuen Verträge zur Wiederaufbereitung mit Frankreich gekündigt hat - eine Hiobsbotschaft für die französische Atomindustrie, so Mycle Schneider. Doch anders als in Belgien hängt in Deutschland an der Wiederaufbereitung der "Entsorgungsvorsorgenachweis". Nur mit ihm dürfen deutsche AKW-Betreiber Strom produzieren. Sechs Jahre im voraus müssen die Betreiber danach für die abgebrannten Brennelemente gesicherte Verbleibmöglichkeiten und entsprechende Endlager nachweisen.

Doch wohin mit dem Atommüll, das ist die bislang ungeklärte Frage. Nach La Hague zur "Wiederaufbereitung", lautete die Antwort, um die AKW-Betriebsgenehmigungen abzusichern. Denn wiederaufbereiteter Müll ist laut internationalen Atomverträgen kein Müll. Weit über 3 200 Tonnen an hochstrahlendem Schwermetall aus deutschen abgebrannten Brennelementen lagern darum bereits in Frankreich, neben vielen Tonnen Plutonium.

Fällt La Hague, fallen auch die deutschen AKW-Genehmigungen - und um so schneller, je eher die Zwischenlager für Atommüll aufgefüllt sind (Ahaus, Gorleben, eventuell Greifswald und die Reaktorstandorte) und Endlager fehlen. An dieser deutschen Rechtslage und der Sorge deutscher AKW-Betreiber vor einem Entzug der Genehmigungen hat Frankreich bis heute gut verdient und will es auch weiterhin. Zudem wird die Atomschleuder La Hague für den französischen Betreiber Cogema (und damit den französischen Staat) unrentabel, sollte die Anlage künftig nicht mehr ausgelastet werden. Das zieht höhere Stromkosten nach sich und beeinträchtigt den französischen Atomstromexport in die EU, für den laut Mycle Schneider allein zehn Atomreaktoren am Netz sind.

Lionel Jospin ebenso wie Gerhard Schröder haben bislang keinen Zweifel daran gelassen, diese vielfältigen ökonomischen Interessen als zentrale Bestandteile in ihren Politikstrategien zu berücksichtigen. Ob die grünen Minister dieses "Siamesische Konstrukt" teilen können, bleibt ungewiß.