Flucht in die Villa

Ungefährliche Orte: Das Weglaufhaus bietet seit drei Jahren Schutz vor psychiatrischer Gewalt

Keine Psychiater im Haus, keine Psychopharmaka, keine psychiatrischen Diagnosen, kein Zwang. So lauten die Grundregeln im Weglaufhaus "Villa Stöckle", das vor genau drei Jahren, zu Neujahr 1996, im Berliner Stadtbezirk Frohnau eröffnet wurde. Seitdem fanden hier 132 wohnungslose Menschen in psychischer, sozialer und existentieller Not eine befristetete Unterkunft, um ihre Krisen abseits Doch im Dezember vergangenen Jahres mußten die Mitarbeiter das Ende ihres Pilotprojektes fürchten und wandten sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit: "Das Weglaufhaus ist in akuter Gefahr! Denn die Berliner Senatorin für Gesundheit und Soziales, Beate Hübner (CDU), weigert sich, die Finanzierungsgrundlage für das Weglaufhaus zu verlängern." Grund für die Angst vor einer Schließung war das Auslaufen einer Vereinbarung mit dem Berliner Senat zum Dezember 1998. Nach dieser Vereinbarung wurde für jeden Bewohner des Weglaufhauses auf der Grundlage des ¤ 72 des Bundessozialhilfegesetzes ("Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten") vom Sozialamt ein Tagessatz von knapp 200 Mark gezahlt.

Alle anderen Kriseneinrichtungen der Stadt hatten zu diesem Zeitpunkt schon ein neues Finanzierungsangebot vom Senat erhalten. Nur die Mitarbeiter des Weglaufhauses warteten vergeblich auf eine Nachricht. Sie erfuhren auf informellem Weg, daß die Senatsverwaltung mehrere Gutachten und Stellungnahmen über das Weglaufhaus anfertigen ließ, unter anderem auch von der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und dem Sozialpsychiatrischen Dienst Reinickendorf.

Doch darin stand nichts, was eine Schließung hätte rechtfertigten können: "Unsere Arbeit wurde sogar als sachlich und notwendig angesehen", sagt Mitarbeiter Stefan Bräunling, "deshalb glauben wir, daß hinter dem beabsichtigten Finanzierungsstopp unsachliche Vorurteile und eine politische motivierte Gegnerschaft standen, um das Weglaufhaus zu schließen."

Ein Politikum war das Weglaufhaus schon lange vor seiner Eröffnung: Als 1990 ein anonymer Spender dem "Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt" überraschend eine Million Mark zum Kauf eines Hauses schenkte und damit die Realisierung des Projekts in greifbare Nähe rückte, dauerte es bis zur Eröffnung noch sechs Jahre, in denen sich die Vereinsmitglieder und Unterstützer mit Bezirks-, Bau- und Sozialämtern auseinandersetzen mußten, denn für das Projekt gab es keine festgelegten Regelungen: Welche Verwaltungen sind zuständig? Gibt es ein öffentliches Interesse an dem Projekt? Wie wird die Betreuung der Bewohner finanziert? Ist das Weglaufhaus eine Wohngemeinschaft oder ein heimähnlicher Betrieb?

Hinzu kamen die wechselnden Machtverhältnisse in Berlin, in denen das Antipsychiatrie-Projekt der "Pingpongball zwischen den Parteien" war, wie es die Mitarbeiterin und Buchautorin Kerstin Kempker formuliert. 1989 war das Weglaufhaus Bestandteil des rot-grünen Koalitionsvertrages und auch noch 1990 bewilligte die SPD-Senatorin Ingrid Stahmer die Finanzierung des Hauses. Doch als im selben Jahr die rot-grüne Koalition zerbrach, zeigte die neue CDU/SPD-Regierung kein Interesse mehr an dem Projekt und schickte den Initiatoren eine Ablehnung. "Nach dieser Katastrophe fiel es uns schwer, noch an einen Erfolg zu glauben", sagt der Psychologe Burkhart Brückner.

Die Weglaufhaus-Gründer mußten sich außerdem mit den Anwohnern des Frohnauer Villenviertels auseinandersetzen, denn die waren gegen eine Unterbringung von Psychiatriebetroffenen in ihrer Nachbarschaft und gründeten eine Bürgerinitiative gegen das Weglaufhaus. "Offensichtlich hatte ein Teil der Leute Angst, weil in ihren Köpfen das Klischee von den gewalttätigen und unberechenbaren Irren herumspukte. Sie schrieben von möglichen Gefahren für ihre Kinder auf dem Schulweg, bezeichneten das Weglaufhaus als Zeitbombe und Gefahrenquelle", beschreibt Brückner den Konflikt.

Nach dem Verständnis der Mitarbeiter der Villa Stöckle werden Krisen jedoch nicht als Krankheit begriffen, denn "Verrückte sind nicht krank, sondern auf einem für andere schwer verständlichen Weg auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt", wie es in einem Mitteilungsblatt des Hauses heißt.

"Wir nehmen die Leute, die zu uns kommen, ernst, auch in ihren Verrücktheitszuständen. Wir glauben ihnen deshalb ihre Geschichte - ohne Gutachten oder Beschreibungen anderer Einrichtungen", sagt Weglaufhaus-Mitarbeiterin Iris Hölling. "Unsere Hauptaufgabe ist es, dabeizusein als ein ehrliches Gegenüber, Alltagsunterstützung zu geben und uns mit den Menschen auseinanderzusetzen." Die Bewohner sollen eigene Entscheidungen treffen und nicht den Institutionen ausgeliefert sein.

Rudolf Sappel hat dieses Verständnis im Weglaufhaus gefunden. "Daß es tatsächlich Menschen gibt, die sich nicht nur Menschen nennen, sondern es auch sind, habe ich hier erfahren", erzählt er. In der Psychiatrie war das Leben für ihn eine unbeschreibliche Qual: "Hätte ich gekonnt, wäre ich gestorben."

Die Bewohner werden während ihres Aufenthaltes bei der Suche nach neuen Berufs- und Lebensperspektiven unterstützt. "Wir trauen den Leuten zu, eine Ausbildung zu machen, auch wenn ihnen jahrelang gesagt wurde, sie könnten sowieso nichts", erklärt Iris Hölling. Die Bewohner und Mitarbeiter des Hauses haben zum Teil eigene Erfahrungen mit Verrücktheit und Psychiatrisierung gemacht, kümmern sich gemeinsam um eine neue Wohnung, eine Arbeit oder Ausbildung und um Arzt- und Amtsgänge.

Seit zwei Wochen weiß man in der Villa nun, daß es für die Einrichtung eine Übergangsregelung gibt. Doch abgesichert fühlen sich die Mitarbeiter dadurch noch nicht, denn in diesem Jahr wird es neue Verhandlungen über die Finanzierung geben. "Vielleicht war das nur der Vorgeschmack auf das, was noch auf uns zukommt", befürchtet Stefan Bräunling, und seine Kollegin Iris Hölling wünscht sich, "daß den vergangenen drei Jahren erfolgreicher Arbeit Rechnung getragen wird und es trotz inhaltlicher Widerstände, die manche Leute haben, eine Anerkennung für unser Projekt gibt, denn eigentlich brauchen wir noch viel mehr Weglaufhäuser".

Kerstin Kempker (Hg): Flucht in die Wirklichkeit - Das Berliner Weglaufhaus. Antipsychiatrieverlag, Berlin 1998, 341 S., DM 34