Rückkehr der Wirtschaftskrisen

Ein moderner Keynesianismus eröffnet die Aussicht auf eine entwickelte Zivilgesellschaft.

Der designierte Präsident des Ifo-Institutes für Wirtschaftsforschung, Prof. Hans-Werner Sinn, erklärte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Jahreswechsel: "Die Schulenbildung ist nicht mehr so bedeutend. Es gab früher einmal Keynesianer, die sind ausgestorben, und ansonsten sind jetzt praktisch alle Ökonomen Neoklassiker." Dies ist entweder ideologische Rechthaberei oder gezielte Desinformationspolitik. Gerade die asiatische Krise und deren Rückwirkung auf die Konjunktur der Globalökonomie hat die Debatte über wirtschaftspolitische Grundkonzeptionen treibhausmäßig befördert.

Rudolf Hickels These (Jungle World, Nr. 48/98) trifft die gegenwärtige Debattenkonstellation besser: "Die Wiederentdeckung der Theorie und Politik nach Lord John Maynard Keynes wird durch die realen Krisengefahren erzwungen (...). Die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise, an deren Erklärung ja gerade die neoklassische Angebotslehre gescheitert ist, ist nicht gebannt. Nicht nur die deutsche Wirtschaftslage muß keynesianisch gedeutet werden. Die nachfragebedingt unzureichende Ausschöpfung der Wachstumsmöglichkeiten erklärt den unternehmerischen Investitionsattentismus und die hartnäckig stabile Arbeitsplatzlücke."

Der kapitalistischen Weltwirtschaft steht für das kommende Jahr eine rezessive Talfahrt ins Haus. Auf diese absehbare Entwicklung mit einer stabilitätsorientierten Geldpolitik der hohen Zinsen und weiteren Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor reagieren zu wollen, käme einer existenzbedrohenden Schröpfkur für einen von Fieberanfällen stark geschwächten Patienten gleich. Der seit Ende der siebziger Jahre schrittweise in allen kapitalistischen Metropolen dominierende Neoliberalismus hat mit der Abwahl der Regierung Kohl seine letzte starke Bastion verloren. Es bestehen günstige Voraussetzungen für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel in Deutschland und in Euroland. In Kooperation mit einer angeschlagenen Clinton-Administration und dem krisengeschüttelten Japan könnte der Absturz in eine weltweite deflationäre Depression verhindert werden.

Alles illusionärer Quatsch, höhnt Robert Kurz (Jungle World, Nr. 51/98). "Sobald es ernst wurde, blamierte sich der Keynesianismus als Antikrisenparadigma kläglich (...). Die Bereinigung der Überakkumulationskrisen in der Vergangenheit geschah weder durch Angebots- noch durch Nachfragepolitik, sondern nur durch die immanente Erschließung neuer, zusätzlicher Anwendungspotentiale von Arbeitskraft im Produktionsprozeß selbst."

Präzise Argumente waren nie die Stärke von Zusammenbruchstheoretikern. Keynes hat während der zwanziger Jahre theoretisch und publizistisch für eine drastische Veränderung der internationalen Finanz- und Schuldenpolitik (Reparationen), für eine nachfrageorientierte nationalstaatliche Wirtschaftspolitik und für eine neue Qualität internationaler Kooperation und Entwicklung gekämpft. Leider vergebens. Erst im Verlauf der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre gewannen entsprechende wirtschaftspolitische Ideen einen begrenzten Einfluß in den USA. Auch bei der Reorganisation der internationalen Weltwirtschaftsordnung und der Architektur des Finanzsystems der Nachkriegszeit (System von Bretton Woods) wurde seinen Vorschlägen nur partiell gefolgt. Keynes' Langzeitprognose einer schweren Überakkumulationskrise mit hoher Arbeitslosigkeit konnte zumindest auch in der bundesdeutschen Debatte nicht völlig ignoriert werden (siehe vor allem die Arbeiten von K.G. Zinn).

Müssen aber die "linkskeynesianischen Nostalgiker" nicht doch das Scheitern der gesamtwirtschaftlichen Steuerung in der Großen Koalition (Schiller und Strauß) und den nachfolgenden sozialliberalen Kabinetten zugestehen? Hickel spricht von "massiven Attacken gegen den oft übel entstellten Keynesianismus" und plädiert für einen modernen Keynesianismus, der sich vor allem auf europäischer Ebene entfalten und bewähren müßte. Es geht also weder um eine schuldenfinanzierte Hochrüstungspolitik ˆ la Reagan noch um eine systemkonforme "Kombination von staatlichem Pyramidenbau mit einer autoritären Sozialbürokratie". Also, was wollen die an Keynes festhaltenden Wirtschaftspolitiker?

Hickel stellt zumindest drei Aspekte heraus: Soll eine schwere Rezession in Deutschland und der Globalökonomie vermieden werden, muß die Finanzpolitik antizyklisch ausgerichtet werden. Der Verzicht auf weitere Kürzungen bei den öffentlichen Etats und eine letztlich schuldenfinanzierte Stabilisierung des öffentlichen Verbrauchs können die wirtschaftliche Abschwächung abfangen. Auch die Geldpolitik der wichtigen Notenbanken kann einen Beitrag zur Krisenabwehr leisten.

Wenn die Absenkung der Zinsraten zudem wie in den letzten Wochen abgestimmt erfolgt, kann ein doppelter Effekt erreicht werden. Zum einen werden weitere Diskrepanzen zwischen den wichtigen Währungen Dollar, Yen und Euro vermieden, durch die die Krisenprozesse verlängert und verstärkt werden.

Zum anderen kann die deutliche Absenkung der Kapitalmarktzinsen die deflationäre Entwertung von Kapital abmildern und zur Expansion der Sachkapitalinvestitionen beitragen. Auch die Lohnpolitik kann wieder einen Beitrag zur Stützung der Massenkaufkraft und Stärkung gesamtwirtschaftlicher Nachfrage leisten. Sollten diese Programmelemente durch eine europäische Beschäftigungs- und Strukturpolitik ergänzt werden, wären wir gegenüber der alten neoliberalen Umverteilungspolitik einen deutlichen Schritt weiter.

Allerdings sind zwei weitere Schritte unverzichtbar: Auch wenn die Lohnsteigerungen wieder am Zuwachs der Arbeitsproduktivität ausgerichtet werden, wird dadurch ein weiteres Absinken des gesamtgesellschaftlichen Anteils der Arbeitseinkommen nicht aufgehalten. Wir brauchen eine umfassende Information über die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse und müssen entsprechende Maßnahmen zu einer langfristigen systematischen Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung durchsetzen.

Außerdem wird der Attentismus bei den realwirtschaftlichen Investitionen auch durch das Übergewicht des Finanz- und Geldkapitals und die steuerliche Begünstigung von Vermögenserträgen verursacht. Die gegenüber den von Keynes kritisierten Zuständen des Übergewichtes von Geldkapital (Liquiditätsfalle) und der Finanzspekulation noch enorm angewachsenen Ungleichgewichte im gegenwärtigen Kapitalismus lassen sich einerseits durch entschiedene Maßnahmen der Kontrolle und der Besteuerung des internationalen Kapitalverkehrs verändern. Andererseits müssen wir auch in der nationalen Ökonomie mit der Privilegierung der Vermögenseinkommen Schluß machen. Der gesamte am Markt erwirtschaftete Vermögenszuwachs eines Jahres muß wie das Arbeitseinkommen präzise erfaßt werden. Zugleich sind über eine angemessene Besteuerung die Vermögen und Vermögenserträge wieder zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben heranzuziehen.

New Labour und Rot-Grün würde ich zwar nicht wie Kurz einen "post-neoliberalen systemterroristischen Pragmatismus" unterstellen. Allerdings ist bei Fortführung der halbherzigen Politik-Konzeption ein Hinüberrutschen aus der Rezession der Globalökonomie in eine chronische Depression nicht auszuschließen. Erst dann entscheidet sich der Klassencharakter der "neuen Mitte".

Stollmann, Wirtschaftsminister Müller und Kanzleramtschef Hombach wollen den Normalverdiener aus dem "Gefängnis" der Lohnnebenkosten herausholen, auch um den Preis einer Verstärkung der sozialen Spaltung und Entsolidarisierung. Robert Kurz propagiert gleichfalls den Befreiungsschlag gegen das "moderne Arbeits-Leistungszuchthaus" und verspricht die erneute Enteignung des Kapitals, dieses Mal nicht durch die Staatsbürokratie, "sondern durch einen Verbund freier Assoziationen".

Kurz selbst bietet sich als Garanten dafür an, daß dabei nicht dieselbe Fehler von neuem durchgemacht werden. Der Umbau der kapitalistischen Gesellschaftsformation durch gesellschaftliche Steuerung und Kontrolle in eine entwickelte Zivilgesellschaft wäre eine weniger risikoreiche Alternative.

Joachim Bischoff ist Redakteur der Zeitschtift Sozialismus.