Bescheidenes Ende

Tarifverhandlungen: Während nun wieder um Prozente gefeilscht wird, halten sich immer weniger Unternehmer an die Verträge

Ein Boß muß immer das Gegenteil be-weisen. Bloß keine "Reichseinheitslösung", spitzt Werner Stumpfe die Zunge. Was aber treibt den Chef des Unternehmerverbandes Gesamtmetall, dem die meisten der ganz Großen an-gehören, die durch das Geschäft in und mit dem Reich nicht gerade arm geworden sind, zu solch historischer Wortwahl? Packte ihn zum Jahresbeginn ein Anflug christlicher Reue? Möchte er gar einigen seiner Mitgliedsfirmen empfehlen, doch ein wenig Kulanz zu zeigen und einen Teil der verzinseszinsten Ge-winne an die ehemaligen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen zu zahlen, für die der Zerfall des Reiches Rettung bedeutete?

Weit gefehlt. Stumpfe geht es zwar auch ums Geld, um viel Geld sogar, das er und die Seinen nicht zahlen wollen, denn die anstehenden Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie bereiten Stumpfes Freunden große Sorgen: Immerhin haben die Gewerkschaften mutig ein "Ende der Bescheidenheit" angekündigt, so jedenfalls IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, nachdem die neue Bundesregierung ein paar der bekanntesten Fiesheiten ihrer Vorgängerin - zum Beispiel die gesetzliche Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - kassiert hatte.

Acht Millionen haben sich die Gewerkschaften den SPD-Wahlsieg kosten lassen. Da ist es nur recht und billig, sich das Geld zurückzuholen - und zwar bei den Mitgliedern, denn höhere Löhne bedeuten auch höhere Beitragszahlungen. Damit aber die größte Einzelgewerkschaft der Welt nicht noch mächtiger wird und ihn in eine neue Heimat schickt, möchte Stumpfe genau das un-bedingt verhindern. Anstelle der "Reichseinheitslösung" soll ein geteilter Tarifabschluß nach dem Motto "teile und herrsche" her.

Vor nicht allzu langer Zeit wollten viele Unternehmer die Tarifverträge mehr oder weniger ganz abschaffen. In Zeiten des "Bündnisses für Arbeit" müssen sie einsehen, daß sich dies nicht durchsetzen lassen wird. IG-Metall-Vize Jürgen Peters, der den neuen Arbeitsminister und sogenannten Gewerkschaftsmodernisierer Walter Riester beerbt hat, kann sich ein höhnisches Lächeln kaum verkneifen. "Leisetreterisch", so der von der FR als "pragmatischer Traditionalist" eingeschätzte, kämen die Arbeitgeber diesmal daher, die allerdings nach den ersten bezirklichen Verhandlungsrunden "statt eines Angebotes nur Forderungen" zu bieten hätten - den ge-teilten Tarifabschluß eben.

Der sieht so aus: Die Löhne und Gehälter sollen, so Stumpfe, um einen "angemessenen Prozentsatz" steigen; gemeint ist damit ein annähernder Inflationsausgleich. Darüber hinaus soll ein Einmalbetrag vereinbart werden, der nicht in die Gehaltstabellen eingeht und von den Unternehmen, die behaupten, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu stecken, in Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat gekürzt oder ganz gestrichen werden kann. Außerdem sollen vermögenswirksame Leistungen sowie die Zahlung von Weihnachts- und Urlaubsgeld von der Ertragslage des jeweiligen Unternehmens abhängig gemacht werden. Extra-Euros für die Hafenbar in Santa Cruz de Tenerife also nur, wenn vorher dicke Gewinne eingefahren wurden.

Neu ist an dieser Forderung, die Tarifverträge durch Öffnungsklauseln zurechtzustutzen, überhaupt nichts. Tatsächlich neu ist Stumpfes etwas moderaterer Ton. Immerhin sollen Regelungen, die schlicht auf Lohnkürzungen hinauslaufen, nur noch möglich sein, wenn die Geschäftsführungen bereit sind, den Betriebsrat in die Bücher schauen zu lassen. Ansonsten hätte der Tarifvertrag zu gelten. Bisher hatten die Unternehmervertreter mit ihren Forderung nach ei-ner "Reform des Flächentarifvertrages" ganz offen auf die Macht des Stärkeren gesetzt. Sämtliche Zahlungen an die Be-schäftigten sollten immer dann in Frage gestellt werden können, wenn die Ge-schäftsführungen mit wenig Gegenwehr im Betrieb rechnen können. Nun also die Erlaubnis zum Blick in die Bücher: Der Betriebsrat soll nicht nur erpreßt, sondern auch überzeugt werden.

Prinzipiell widerspricht beides dem Wesen des deutschen Tarifvertragssystems, sollen doch die in den Tarifverträgen abgeschlossenen Arbeits- und Lohnbedingungen Mindestbedingungen innerhalb einer Branche darstellen, von denen nur zugunsten der Beschäftigten abgewichen werden darf. Dies ist rechtlich abgesichert. Im Gegenzug sind Be-schäftigte und Gewerkschaften zur Friedenspflicht gezwungen, das heißt Arbeitskampfmaßnahmen dürfen nur parallel zu Tarifverhandlungen durchgeführt werden. Solidaritätsstreiks, politische oder wilde Streiks - etwa gegen die Schließung von Betrieben - sind demnach ebenso illegal wie der Versuch tarifgebundener Unternehmen, die Tarifverträge auf Betriebsebene zu unterlaufen. Soweit die Theorie.

Während aber landauf, landab noch kein illegaler Streik auch nur ein Fahrrad hat stillstehen lassen, ist es in vielen Unternehmen gängige Praxis, den Beschäftigten den ihnen tarifvertraglich zustehenden Lohn vorzuenthalten, indem unbezahlte Überstunden oder ähnliches verlangt wird. Das wird dann "Betriebliches Bündnis für Arbeit" genannt. Zahlen, die sich der DGB nach dem Regierungswechsel nun zu veröffentlichen traut, bestätigen, wie verbreitet diese Praxis ist. Bei einer Befragung von 2 000 Betriebsräten gaben rund 18 Prozent im Westen und 30 Prozent im Osten an, bei ihnen werde der Tarifvertrag unterschritten. Mit steigender Tendenz, so die stellvertretende DGB-Chefin Ursula Engelen-Kefer. Derzeit hielten sich nur noch rund 70 Prozent der Unternehmen in den alten Bundesländern und 52 Prozent in den neuen an die jeweiligen Tarifverträge.

Diese relative Offenheit - schließlich ist es auch ein Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften in den Betrieben, wenn sie nun Tarifvertragsbrüche zugeben - verbindet der DGB mit rechtspolitischen Forderungen an die Bundesregierung. Um zu verhindern, daß die Vereinbarungen gebrochen werden, müsse den Unternehmerverbänden und Ge-werkschaften ein generelles Verbandsklagerecht eingeräumt werden. Im konkreten Fall hieße dies, daß die zuständige Gewerkschaft auf Einhaltung des Tarifvertrages in einem Betrieb klagen könnte, auch wenn sich kein Gewerkschaftsmitglied traut, auf dem Gerichtsweg den Anspruch auf Tariflohn individuell durchzusetzen. Das wäre nur angemessen, denn alle wissen, wer in einem solchen Fall als nächstes gehen müßte - für immer

Wie dramatisch die Lage ist, zeigt auch die in der vergangenen Woche veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Danach sank der Anteil der tarifgebundenen Privatunternehmen in Westdeutschland von 52 Prozent im Jahr 1995 auf 49 Prozent zwei Jahre später. In Ostdeutschland unterlagen 1997 nur 26 Prozent der Privatunternehmen einem Flächentarifvertrag, so das Ergebnis des mit der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit verbundenen Instituts. Da die Größe der Betriebe sehr unterschiedlich ist, haben sich die Nürnberger auch die Mühe gemacht, diese Zahlen auf den Anteil der Beschäftigten hochzurechnen, die in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten: Im Westen waren dies 65 Prozent, im Osten lediglich 44 Prozent. Für wen verhandeln IG Metall und Gesamtmetall eigentlich?