Die Union und ihre Kampagnen

Gereiftes Rechtsempfinden

Einer der Vorgänger Edmund Stoibers im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten hatte 1974 eine Strategie entwickelt, den sozialliberalen Machthabern die Wähler abspenstig zu machen. Durch "die Emotionalisierung der Bevölkerung", und zwar durch "die Furcht, die Angst und das düstere Zukunftsbild" wollte Franz Josef Strauß die Unionsparteien an die Macht bringen. Stoiber instrumentalisiert dazu die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. In einem Focus-Interview sagte er vor einigen Tagen: "Damit wird die Integrationsfähigkeit der Deutschen ganz klar überbeansprucht. Und das muß die Substanz der Auseinandersetzung mit Rot-Grün sein. Denn das will das deutsche Volk nicht."

Plötzlich will die traditionell plebiszitfeindliche Union das Volk befragen, während SPD und Grüne, die bisher eine Ausweitung plebiszitärer Elemente gefordert hatten, plötzlich - und zu Recht - auf der Hoheit des Parlaments beharren. Die Frankfurter Rundschau nutzt die Gelegenheit zu einem grundsätzlichen Plädoyer: "Nie war die Zweidrittelmehrheit im Bundestag so nah für die Einführung eines Volksentscheids. Und daß das deutsche Volk reif ist, nicht nur über Personen, sondern auch in der Sache zu entscheiden, mag kaum noch jemand leugnen im 50. Verfassungsjahr." Ein Kollektiv, ein einschlägig geprägtes zumal, soll darüber entscheiden, ob Individuen in den Genuß bürgerlicher Rechte gelangen? Das wird Innenminister Otto Schily (SPD) freuen, der im Interview mit der Süddeutschen Zeitung betonte: "Wir müssen eine Rechtsordnung zustande bringen, die dem Rechtsempfinden der Menschen entspricht. Recht hat viel mit Rechtsempfinden zu tun und dem Versuch, dieses Rechtsempfinden umzusetzen."

Nicht nur im Vertrauen auf das Volksempfinden ist sich Schily mit der Union einig, sondern auch darin, daß die Zuwanderer gefälligst ein Loyalitätsbekenntnis zum deutschen Vaterland abzulegen haben. Rot-Grün verteidigt die doppelte Staatsbürgerschaft unter dem gleichen Stichwort, unter dem die CDU sie bekämpft: "Integration". Und integriert ist, wer sich loyal verhält: "Wenn man Menschen integriert und ihnen die vollen staatsbürgerlichen Rechte verleiht, werden sie in die Pflicht genommen", so der Innenminister.

Der Historiker Michael Wolffsohn, ein energischer Gegner der Reform, zweifelt an der "inneren Zugehörigkeit" der potentiellen Neu-Deutschen und behauptet in der Welt: "Die doppelte Staatsbürgerschaft schafft doppelte Loyalitäten, doppelte Pflichten, manchmal auch doppelte Kosten. (...) Sie schafft keine Authentizität, sie schafft sie ab, sie zerreißt (...) denjenigen, dem sie als Wohltat zugedacht war." Um Wohltaten aber geht es nicht, sondern um das Sortieren von Menschenmaterial: Das zeigt der Ausschluß von Vorbestraften und Verfassungsfeinden von der Einbürgerung. Die Innenminister der Länder planen konsequenterweise bereits Regelanfragen zu potentiellen Deutschen beim Verfassungsschutz.

Daß die Union angesichts einer rot-grünen Koalition, die rechts und national kaum Spielraum läßt, auf die Idee einer arbeitsteiligen Volksfront zurückgreift, verwundert kaum. Der bescheidene Versuch, Bürgerrechte und -pflichten per Paß an Leute zu verleihen, die zwar sorgfältig ausgesucht, aber nicht deutschen Blutes sind, genügt ihr als Anlaß, um zu wiederholen, was mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 seinen bisherigen Höhepunkt erlebte. Vor den völkischen Riots Anfang der neunziger Jahre war die Agitation gegen "Asylantenströme" und "Ausländerwahlrecht" vor allem von Unionspolitikern - etwa im hessischen Kommunalwahlkampf 1989 - systematisch in die Parlamente getragen worden.

Diesmal droht der gleiche Ablauf: Während die Unterschriften der Mehrheit auf den Listen trocknen, könnte die Avantgarde erneut auf ihre Weise helfen, die Verhältnisse zu klären. Hoyerswerda und Rostock lassen grüßen. Neu ist nur, daß die Bündnispartner der Union - DVU, NPD und andere Neonazis - ihre rassistischen Aggressionen diesmal im Schutz einer explizit auf "Integration" angelegten Kampagne austoben dürfen - im Gegensatz zur alten Hinterfotzigkeit: Die Deutschen haben für ihre Opfer immer das Beste gewollt.