Rote Nasen, rote Fahnen

Gefährliche Orte LI: Kaiserwetter bei der Luxemburg-Liebknecht-Demo

Sie kommen jedes Jahr. Und sie kommen früh. Am Sonntag! Nur, um dem Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken. Und der Revolution von 1919. Und Wladimir Iljitsch Lenin. Und Che Guevara. Und Salvador Allende. Und Ernst Thälmann. Und Ibrahim Kaypakkaya. Und Josef Wissarionowitsch Stalin. Und Karl Marx. Und Friedrich Engels. Und Albert Kuntz. Aber den kennt eigentlich niemand so richtig - nur die DKP Hessen.

Alle sind sie gekommen, mit vielen roten Fahnen, roten Nelken und rotgefrorenen Nasen, denn es ist nicht nur zu früh, sondern auch viel zu kalt, um durch Ostberlin zu pilgern. "Ein richtiges Kaiserwetter", meint einer der Teilnehmer, findet die Bezeichnung dann aber selbst nicht mehr zutreffend. Denn es geht ja um etwas ganz Politisches: Kommunismus oder so.

Deshalb ist die Straße voller kommunistischer Grüppchen, die Luft voller revolutionärer Parolen und die Köpfe voller sozialistischer Zuversicht. Aus der gesamten Republik sind sie angereist - einige zwar nur, "weil ich sonst Ärger mit meiner WG bekomme". Andere kommen von weit her: aus Frankfurt/ Main beispielsweise ("ich komme schon seit Jahren hierher") oder aus Österreich ("zusammen mit der KPÖ-Jugend").

Auf dem Platz vor der Gedenkstätte werden die ersten ungeduldig. Der Demonstrationszug ist immer noch nicht da. Dafür kommt der aktuelle Lagebericht live und unzensiert von Ihrer MLPD: "Der polizeistaatliche Terror versucht zu verhindern, daß wir die Abschlußkundgebung gemeinsam mit den Demonstranten abhalten. Ich schlage dennoch vor, daß wir die Ankunft der Jugendorganisationen abwarten. Ich denke, daß es auch im Sinne von Liebknecht und Luxemburg ist, daß wir diesen Tag gemeinsam begehen."

So lange hat das Schalmeien-Orchester "Fritz Weneck" Berlin keine Zeit mehr. Nach Stunden inbrünstig angestimmter sozialistischer Kampflieder vor den Friedhofstoren bauen sie die Notenständer ab und packen die Instrumente ein, ehe die Demo eintrifft. Die Jugend, mögen sie sich gedacht haben, schafft es wohl auch ohne sie, sich bei Laune zu halten.

Dafür sorgt schließlich - die MLPD. Auch von ihnen nichts als Arbeiterlieder, alte wie neue. Eines der neueren hat den Refrain "Denn für alle steht die Losung: Bischofferode ist überall".

An der Gedenkstätte kann die MLPD mit dem breitesten Angebot aufwarten, auch der Marxismus-Leninismus scheint inzwischen auf Produkt-Diversifizierung zu setzen. Es gibt Flugblätter ("Sozialismus wird siegen - trotz alledem") und Unterschriftenlisten - gegen "die Aggression Deutschlands gegen das irakische Volk" zum Beispiel. Außerdem Kaffee, Capuccino, Tee und Bockwürste weich wie Watte. Darüber hinaus noch eine eigene Zeitschrift, viele gleich klingende Lieder und, wie erwähnt, die aktuelle Demo-Berichterstattung. Der neueste Stand? "Die Demonstration ist jetzt auf Höhe der S-Bahn-Station Frankfurter Allee angelangt. Wenn nichts mehr dazwischen kommt, sind die Jugendlichen in einer halben Stunde da. Lassen wir uns nicht spalten von den Manövern der Polizei - auch wenn ringsherum gleich alles grün ist!"

Auf der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain kann man von den versammelten K-Gruppen noch eine Menge lernen: "Rosa und Karl waren Kommunisten" (Bolschewistische Jugend), "Die Faust bleibt" (Revolutionäre Jugend Köpenick), "Entweder Permanent Massaker oder Permanente Revolution" (Die Bewegung der Unterdrückten), "Die Grenze geht nicht durch Völker" (Lautsprecherwagen), "Hoch lebe der Arbeiterführer Spock" (vermutlich Captain Kirk), warum PDS und SPD die Arbeiterklasse verraten haben (Spartakusbund) und daß die Nationalhymne der real nicht mehr existierenden DDR, die Internationale und die Lieder von Hannes Wader und Ernst Busch wohl deshalb beliebt sind, weil sie den scheußlich schlechten Chor der MLPD übertönen. Und zuguterletzt, daß sich in den letzten 80 Jahren ein wenig verändert hat. Nicht mehr "Sozialismus oder Barbarei" heißt die Alternative, sondern "Freiheit statt Kapitalismus".

Zu kaufen gibt es auf dem Marktplatz der Kommunisten vor der Gedenkstätte eigentlich alles. Che-Guevara-T-Shirts sowieso, welche mit Karl und Rosa vorne drauf auch, eines mit Albert Einstein (war der auch Kommunist?). Außerdem - selten genug - verkaufen die Genossen aus Vietnam an ihrem Stand Ho-Chi-Minh-Hemden. Dazu grünen Tee und zierliche Porzellanpuppen - in rosa.

Direkt daneben, am Bücherstand, Primärliteratur von den ganz Großen des Kommunismus: Stalin, Lenin, Enver Hoxha. Und, mindestens genauso wichtig: "Zeitbombe Rinderwahnsinn".

Was sonst noch? Pullover, Teppiche, Ohrringe, Nasenringe, Fingerringe, Bockwurst, Bratwurst, Bücher, Bücher, Bücher, Kartoffelsuppe, Kartoffelpuffer, Bratkartoffeln, Glühwein, Postkarten, CDs, Schallplatten, rote Fahnen mit Stern, rote Fahnen ohne Stern, rote Fahnen mit Hammer und Sichel, rote Fahnen ...

Die Parole weist immer den Weg. Wer die eigene oder die seiner Organisation nicht auf Transparenten oder Fahnen vor sich herträgt, trägt sie eben auf der Stofftasche. So wie der Mann mit Bart und rotem Schal: "Wer liest, steckt alles in die Tasche", steht drauf - und das macht er auch. Bei der FDJ, bei Cuba s' und bei der PDS, dreimal hintereinander, ganz konsequent.

Überhaupt: viel bedrucktes Papier. Interessant, weil bislang unbekannt: Die Zeitung für den Aufbau der Bolschewistischen Partei Deutschlands. Oder die Jungle World - meint zumindest einer von der Initiative Volksbegehren für mehr Demokratie in Berlin. Wegen dem Titel: "Wie schmeckt der Euro?" Darüber könnte man auch mal eine Volksbefragung machen, sagt er. Lecker!

Der Zuspruch für die Demonstration ist groß: 10 000 sind gekommen. Die meisten davon Kommunisten und deswegen auch ziemlich diszipliniert. Die DKP hat am Anfang des Zuges zwar gleich vier oder fünf Fahnenträger postiert - wohl aus Protest dagegen, daß die Veranstalter sie ganz ans Ende des Aufzuges verbannen wollten. Aber im großen und ganzen verträgt man sich. Nur eine - nach eigenen Angaben 800 Mann und Frau starke - Gruppe in Kampfuniform hat den Umzug mit einer Massenschlägerei verwechselt. Neidisch auf die vielen roten Fahnen, nimmt sie anderen Gruppen einfach die wehende Propaganda weg, schlägt Nasenbeine blutig und manche Opponenten sogar ohnmächtig. Zwar ist die nicht besonders beliebte Gruppe sportlich fit, aber mit der politischen Schulungsarbeit ist es nicht soweit her: "Ich kann gar nicht lesen", gesteht einer der Kämpfer der Jungle World.

Hans Koppi vom Bund der Antifaschisten kennt sogar den heimlichen Anführer der aggressiven Betriebskampfgruppe: "Innensenator Werthebach will wohl seine Duftnote hinterlassen." Und tatsächlich: Auf der Karl-Marx-Allee liegen häufchenweise Pferdeäpfel seiner Kavallerie.

Als vier Stunden nach dem Start auch die Demonstranten den Marktplatz vor der Gedenkstätte endlich erreicht haben, hat selbst der grauhaarige Mann im DKP-Block die Schnauze voll. "Oh, nicht schon wieder", stöhnt er, als einmal mehr die "Internationale" angestimmt wird.

Endstation Grabstätte. Aber da liegen ja noch andere, nicht nur die Rosa und der Karl: "Der Walter Ulbricht", raunt eine Frau ihrer Freundin beim Vorbeigehen am Grab des Ex-DDR-Staatschefs zu, "der hat den Sozialismus ja schon verraten."

Karl und Rosa nicht, was auch erklärt, warum ihre Grabplatten unter all den roten Nelken gar nicht mehr zu erkennen sind. Außerdem liegen noch Kränze da. Und Widmungen und Ehrerweisungen. Natürlich hat die MLPD auch hier ihre Spuren hinterlassen: "Für den echten Sozialismus", heißt es auf dem Spruchband. Wie auf dem Transparent für die Demo. Die Bolschewistische Jugend würdigt die beiden Ermordeten als "Sterne der Geschichte".

Und die PDS war gleich dreimal da. Bundesvorstand und die Berliner Fraktion sowieso, aber auch, ganz regionalbewußt, die PDS Ost-Vorpommern.