Hippies greifen an

Michel Houellebecq rechnet mit '68 ab und warnt vor dem "abendländischen Selbstmord". Das Publikum mag das Buch, Frankreichs Kritiker sind sich uneins

Seine ehemaligen Kollegen erinnern sich heute, er sei verklemmt gewesen, unscheinbar und introvertiert. Man habe ihn für einen Versager gehalten, bis 1994 sein erster Roman erschien, "Extension du domaine de la lutte", mit dem er einen Achtungserfolg erzielte. Im Herbst 1998 hat der 40-jährige Agraringenieur Michel Houellebecq, der seit einigen Jahren als Informatiker im technischen Dienst des französischen Parlaments arbeitet, ein neues Buch veröffentlicht, das die intellektuelle Öffentlichkeit Frankreichs tief gespalten hat, weil es nichts weniger tut, als die Ziele der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zur historischen Makulatur zu erklären.

Von seinem Verlag Flammarion als eine "literarische Bombe" angekündigt, kreist Houellebecqs Roman "Les particules élémentaires" ("Die Elementarteilchen"), das im Herbst 1998 in Frankreich erschien und von dem innerhalb zweier Monate 130 000 Exemplare verkauft wurden, um den "suicide occidental", den "abendländischen Selbstmord", ein Thema, das schon Oswald Spengler mit seinem "Untergang des Abendlandes" erfolgreich aufbereitet hat. Houellebecq erzählt dazu die Geschichte zweier Halbbrüder, Michel Djerzinski und Bruno, die in den fünfziger Jahren beginnt und nach Michels "bahnbrechenden" wissenschaftlichen Arbeiten zur Genforschung und seinem Selbstmord im Jahr 2009 endet.

Michel und Bruno haben verschiedene Väter, aber eine gemeinsame Mutter: Janine Ceccaldi, deren Biographie den Leser durch den ganzen Roman begleitet. Janine gehört zu den "précurseurs", den Vorläufern, die "im allgemeinen nur eine Rolle von geschichtlichen Beschleunigern einer historischen Zersetzung spielen, ohne je den Ereignissen eine neue Richtung verleihen zu können". Von der Mutter, die sich einer amerikanischen Hippie-Sekte angeschlossen hat, deren Gemeinschaft "auf der freien Sexualität und der Benutzung psychedelischer Drogen basiert", im Stich gelassen, wachsen die Halbbrüder bei ihren Großmüttern auf.

Im Streben nach sexueller Freiheit, sozialer Gleichheit und ökonomischer Unabhängigkeit sieht Houellebecq die Elemente, die die soziale Gemeinschaft zerstören. Durch Wohlstand und Massenkonsum während der fordistischen Phase "fand die Idee zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz, wonach die wirtschaftlichen Bedingungen normalerweise zu einer gewissen Gleichheit tendieren sollten. (Ö) Doch das menschliche Wesen ist darauf aus, Hierarchien zu bilden, es strebt energisch danach, sich seinesgleichen gegenüber überlegen zu fühlen."

Michel hat von seiner Großmutter gelernt, welche Werte die vorangegangene Generation geleitet haben: "Die Frau bleibt zu Hause und besorgt den Haushalt. Der Mann arbeitet draußen. Die Paare sind sich treu und glücklich; sie leben in angenehmen Häuschen außerhalb der Städte, in den Banlieues."

Diese Harmonie aber ist längst zerstört. "Der lustbetonte Massenkonsum nordamerikanischen Ursprungs (Lieder von Elvis Presley, Filme von Marilyn Monroe) breitete sich in Westeuropa aus. Parallel zu den Kühlschränken und Spülmaschinen, materielle Begleiter des Glücks der Paare, verbreiteten sich der Transistor und der Plattenspieler, welche das Verhaltensmodell des 'jugendlichen Flirts' in den Vordergrund stellen würden. (Ö) Die hedonistisch lustbetonte Option nordamerikanischer Herkunft erhielt eine machtvolle Unterstützung durch die Presseorgane mit libertärem Gedankengut. Wenn sie im Prinzip die Opposition zum Kapitalismus als politische Perspektive hatten, so waren sie doch mit der Vergnügungsindustrie über das Wesentliche einig: die Zerstörung der moralischen Werte des Juden- und Christentums, Verherrlichung der Jugend und der individuellen Freiheit."

Um den Verfall zu illustrieren und die Möglichkeit, ihm zu entgehen, beschreibt Houellebecq Michel und Bruno mit fast exzessiver Gründlichkeit durch ihre gegensätzlichen sexuellen Verhaltensweisen - Bruno sucht auf geradezu besessene Weise, sexuelle Befriedigung zu finden; Michel ist völlig asexuell, und "sein Schwanz dient ihm nur zum Pissen". Konsequent entscheidet sich Bruno am Ende der Geschichte, in einer psychatrischen Klinik zu leben.

Aber auch Michel - von Beruf Biologe - muß für den Versuch, gegen die Zeit zu leben, bezahlen. Er bricht alle persönlichen Kontakte ab und folgt dem Angebot, an einem Genforschungsprojekt teilzunehmen. Die Erzählung endet im Jahr 2009 mit der Aussicht auf eine lichte Zukunft: "Sobald der genetische Code (der Menschheit) entschlüsselt sein würde, wäre die Menschheit in der Lage, ihre eigene biologische Evolution unter Kontrolle zu bringen. Die Sexualität würde dann klar als das erscheinen, was sie ist: eine unnötige, gefährliche und rückwärtsgewandte Funktion." Michel schließt seine Forschungsarbeiten ab und begeht Selbstmord - von einem Kollegen beschrieben "als das traurigste Wesen, das mir je begegnet ist (Ö), in seinem Inneren zerstört und vollkommen verwüstet".

In einem Epilog erfährt der Leser, daß ein auf Djerzinskis Spuren wandelnder junger Forscher namens Frédéric Hubcszejak inzwischen den Wunsch nach einer vollständig geklonten und sich nicht mehr auf sexuelle Weise fortpflanzenden Menschheit realisiert hat, indem er "diese konfuse Ideologie, die am Ende des 20. Jahrunderts unter der Bezeichnung New Age erschien, zu seinen Nutzen umkehrte". Als erster habe Hubcszejak verstanden, "daß jenseits der Masse überholter und lächerlicher Aberglaubenssätze, aus denen es auf den ersten Blick besteht, New Age eine Antwort auf ein leichtes Leben darstellte (Ö). Das New Age bildete einen echten Willen, mit dem 20. Jahrhundert zu brechen, mit seiner Unmoral, seinem Individualismus, seinen libertären und antisozialen Zügen." So verlieren bei Houellebecq am Ende "die Konzepte von 'individueller Freiheit', 'Menschenwürde' und 'Fortschritt'" jene Gültigkeit, die dafür gesorgt hatten, daß "die menschliche Geschichte vom 15. bis zum 20. Jahrhundert sich im wesentlichen als jene einer Auflösung und eines zunehmenden Zerfalls charakterisieren läßt".

In den Kontroversen, die der Roman Houellebecqs aufgeworfen hat, ging es immer wieder um die Frage, ob der Roman sich tatsächlich die These von der "Dekadenz" des Westens durch eine - von ihm als Bedrohung gesehene - Liberalisierung der Sexualität und der Moral zu eigen mache und dieser eine autoritär-moralistische Orientierung entgegensetze, oder ob es dem Autor nur darum gehe, einen Zustand der bestehenden liberal-kapitalistischen Gesellschaft zu beschreiben, ohne einen reaktionären Ausweg aus dieser propagieren zu wollen.

Der konservative Figaro, der den Roman zunächst als "pornographische Misere" bezeichnet hatte, erkannte schnell die Chance, die Auseinandersetzung für sich zu instrumentaliseren, und nahm Houellebecq gegen den "linken Gesinnungsprozeß" in Schutz.

Der Autor selbst zog sich in einer Debatte im Pariser Kultur-Kaufhaus Fnac, bei der er von jugendlichen Teilnehmern als "Nazi" beschimpft wurde, auf die Rolle des Protokollanten zurück: "Man will unbedingt in meinem Roman einen Essay sehen, Vorschläge und Lösungen finden, während es doch nur eine Beschreibung ist." Das meinten auch seine Apologeten in Le Monde, während die literarische Zeitschrift Perpendiculaires, zu deren Mitarbeitern Houellebecq gezählt hatte, darauf beharrte, daß Houellebecq sich als rechtsextremer Antidemokrat zu erkennen gegeben habe.

Houellebecq favorisiert tatsächlich keine "Lösung", auch keine reaktionäre oder faschistische - in seinem Roman tauchen an einem halben Dutzend Stellen Aktivisten des Front National auf, die jedoch meist als Idioten ohne Ideen dargestellt werden. Houellebecq bekennt sich dazu, die rechtskatholischen Fundamentalisten "sympathisch" zu finden, von denen ihn aber eines unterscheide: "Ich glaube nicht an Gott."

Michel Houellebecq: Les particules élémentaires. Flammarion, Paris 1998, 394 S., FF 105