Once in a lifetime

Michael Jordan gab seinen Rücktritt bekannt. Ein Überblick über die Reaktionen in den USA

"In den USA ist ein Spitzensportler gleichzeitig öffentlicher Lebemann", bemerkte 1984 der Publizist Eike Geisel in der konkret, "in der Bundesrepublik sieht er aus wie ein Rot-Kreuz-Helfer." Die habituelle Erscheinung großer Sportler, so ist fünfzehn Jahre später festzustellen, hat sich seit der Vereinigung von BRD und DDR keineswegs verbessert. Die Bereitschaft, diesen Mißstand gutzuheißen und tapfer zu verteidigen, ist hingegen gewachsen, denn, so die Begründung, Sport sei Sport wie Schnaps ja auch Schnaps sei, und folglich habe Sport mit Ästhetik nichts zu tun.

Entsprechend groß ist hierzulande das Unvermögen, die Enttäuschung und emotionale Erregung zu verstehen, die die US-Öffentlichkeit ob des Rücktritts von Basketballstar Michael "Air" Jordan ergriffen hat.

Auch wohlmeinende und lobenswerte Versuche, die Bedeutung des Jordan-Rücktritts exemplarisch auf deutsche Verhältnisse zu übertragen, scheitern regelmäßig. "Wie ist das Ereignis weltpolitisch einzuordnen?" fragte beispielsweise Joachim Kaffer in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung, "bedeutender als das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton, den Präsidenten der USA, den mächtigsten Politiker des mächtigsten Landes der Welt? Natürlich." Und als Begründung lieferte er nach: "Kein Mensch heult wegen Clinton." Als deutschen Vergleich benannte er: "Man kann sich das hierzulande gar nicht vorstellen, daß Kanzler Schröder die Nation auffordert, ein, zwei Tage zu trauern, weil ein Sportler zurückgetreten ist, Michael Schumacher zum Beispiel. Bill Clinton hat das getan, überflüssigerweise."

Oder, anderes Beispiel: "Man kann sich auch nicht vorstellen, daß der Spiegel anläßlich des Rücktritts von Steffi Graf ein Sonderheft herausgibt, jeden Satzball einzeln auflistend. Die hochseriöse Newsweek hat das getan." Oder, ein ganz bemerkenswertes Beispiel: "Michael Jordan ist sogar Bestandteil der Umgangssprache. Wenn ein Amerikaner erklären will, daß jemand außergewöhnlich gut in seinem Metier ist, bringt er Jordan ins Spiel: So hat vor Olympia 1998 eine Zeitschrift ihren Lesern den Hacklschorsch nahegebracht als 'Michael Jordan des Rodelns'. Alles klar?"

Die Argumente sind gut vorgetragen, die Beispiele gut gewählt, aber es wird wieder mal hierzulande niemanden überzeugen. Entweder hält man den Verfasser für bekloppt, wie man die Amis eh alle für bekloppt hält, weil in Deutschland schon seit Jahrzehnten die Erklärung für etwas besonders Schrilles "Na-typisch-amerikanisch-halt" lautet. Oder, das ist schon die höflichste Form der Reaktion, man hält dem Autor zugute, er habe seinen Text, wie es dann immer so schrecklich heißt, "mit einem Augenzwinkern geschrieben", leicht ironisch gar und gewiß nicht so ganz ernstgemeint.

Stolz aufs Unverständnis ist eine deutsche Tugend. Und folglich soll dieser Artikel auch kein weiterer Versuch sein, das Einleuchtende - daß menschliche Fähigkeiten, die Bewunderung oder Anerkennung auslösen und soziale Gratifikation einbringen, keineswegs nur geistige sind, sondern auch körperliche, und daß eine politische Dimension beiden zukommt - zu erläutern, dieser Text will weniger. Er will bloß ein wenig dokumentieren, wie in der US-Presse über den Rücktritt von Michael Jordan berichtet und kommentiert wurde, einen kleinen Einblick in eine Welt ermöglichen, in der der Sport und seine Akteure nicht als, wie es in Deutschland wieder so unschön heißt, als schönste Nebensache der Welt denunziert wird.

Jay Mariotti schrieb in der Chicago Sun, als die Meldung von Jordans Rücktritt noch nicht bestätigt war: "Das ist so ein Tag, den ein Sportjournalist befürchtet: Mein Großvater sah Babe Ruth, den Baseballstar, mein Vater sah Muhammad Ali, den Boxer, und ich habe Jordan gesehen. Jede Generation wird nur einmal gesegnet." Und weiter: "Er spielte in Chicago, einer Stadt, die den Basketball einmal mit einem Gähnen empfangen hat. Er war die gesegnete Seele in einer Stadt, die bis dahin mehr sportliches Scheitern als sportlichen Erfolg erlebt hatte, und er gab Chicago einen Schuß von Selbstachtung. Was wird aus dieser Stadt ohne all dies?"

Mike Downey schrieb in der Los Angeles Times in welcher Reihenfolge, wenn diese vier Dinge gleichzeitig einträfen, die Zeitungen darüber berichteten:

"1. Jordan tritt zurück.

2. Clinton wird für schuldig befunden.

3. Japan überfällt Hawaii ... wieder.

4. Irak meldet sich als 51. Staat der USA an."

In der gleichen Zeitung kommentierte Bill Plaschke: "Es ist, als wären Sonnenaufgänge abgesagt worden, als ob man die Sterne vom Himmel nähme, als ob Babys nicht mehr lächeln dürften."

Bob Green schrieb in seinem Buch "Hang Time" über die Art, wie Väter ihren Kindern den Basketballstar erklärten: "Für sie war Jordan so etwas wie der Eiffelturm oder der Louvre."

Michael Wilbon erzählte in der Washington Post: "Meine damalige Verlobte stellte sich zwischen mich und den Fernseher, um meinen Blick auf die Chicago Bulls zu stören. Sie fragte mich, glaubend, sie wüßte, wie meine Antwort ausfiele: 'Wen liebst du mehr, mich oder Michael Jordan?' Ich sagte ihr, daß ich sie mehr liebe als Scottie Pippen."

Pam Belluck erinnerte in der New York Times an die Bedeutung Jordans für die Stadt Chicago. "Wenn Eppie Lederer alias Ann Landers", heißt es über eine bekannte amerikanische Kolumnistin, "nach Übersee reiste und erwähnte, daß sie aus Chicago stammt, gab es stets eine Reaktion, die ihr Schaudern machte. 'Sie gingen weg und sagten dabei: 'Oh, Al Capone', und dabei ahmten sie mit ihren Fingern und Händen eine Pistole nach', sagte Ms. Lederer, 'ich war beschämt, verlegen. Wer will schon in eine Stadt kommen, die bekannt ist wegen eines der schlimmsten Gangster der Geschichte? Wo sie auf Menschen schießen wie auf Hunde?'

His Airness hat all dies verändert.

Heutzutage, wenn Ms. Lederer ihre Abstammung aus Chicago enthüllt, versuchen die Menschen mit ihren Händen und Fingern einen Jump Shot zu imitieren. 'Nun sagen sie alle: 'Oh, Michael Jordan'', berichtet sie."

Pam Belluck führte in diesem Artikel weiter aus: "Das Wichtigste ist, daß Michael Jordan dieser Stadt mehr gegeben hat als die Chance, Heimstatt des wahrscheinlich besten Basketballspielers aller Zeiten zu werden. Er erlöste die Stadt von ihrem Second-City-Komplex, unterfütterte endlich die selbstbewußten Sprüche, und, wie etliche Leute meinen, erlaubte Chicago, sich von den Zwängen der Geschichte freizumachen und für sich einen neuen Sinn zu kreieren."

Ähnliches berichtete Eward Walsh in der Washington Post, und er erinnerte an die Schlagzeile der Chicago Tribune vom 13. Oktober 1993, als Jordan das erste Mal zurücktrat, um eine Baseballkarriere zu beginnen: "Thank you for the Memories."

David DuPree schätzte in der USA Today Jordans Rang in der Sportgeschichte ein: "Ja, Jordan trat zurück und er nimmt einen Platz ein zwischen den größten Sporthelden der Geschichte. Er gehört einer Liga von nur ganz wenigen an - Babe Ruth, Muhammad Ali, Arnold Palmer, Pele - Athleten also, deren Popularität und Können über ihren Sport hinausreichte. Sie alle sind größer als das Leben, sie werden von der Legende zum Mythos, und Jordan paßt da ganz gut rein. Ruth hatte seinen Wanst, Ali seine Zunge, Palmer seinen Putter und Pele seine Füße, aber Jordan besaß etwas weniger Greifbares: die Luft." Weiter schrieb DuPree: "Wenn es wahr ist, daß Druck aus uns allen Feiglinge macht, dann machte er aus Jordan einen Superstar. Es war nicht nur, was er tat, sondern auch, wie er es tat, wann er es tat und wo er es tat."

NBA-Commissioner David Stern, der für die Vermarktung der Basketballiga verantwortlich ist, wurde in der USA Today zitiert: "In einer Zeit, in der Pepsi, Coke, Nike, Reebok, Gatorade und andere Firmen begannen, unsere Spieler als Litfaßsäulen zu benutzen, trat ein Spieler von außergewöhnlicher Persönlichkeit an, und er definierte, was Größe wirklich bedeutet."

Bei Jim O'Donnell in der Chicago Sun liest sich das so: "Er verlieh dem Winter Energie und machte den Frühling unsterblich."

Chris Broussard zitierte in der New York Times den früheren Spieler Allen Iverson, der gesagt hatte: "Jordan setzte die Standards für jedermann", und führte dessen Gedanken weiter: "Jedermann ist nicht beschränkt auf Amerika oder die westliche Hemisphäre. Sein Einmal-in-einer-Generation-Spiel und sein scheinbar grenzenloser Kommerz-Appeal machten aus ihm nicht nur eine kulturelle Ikone, sondern auch einen globalen Helden, einer, dessen Einfluß in der Welt des Sports nur vergleichbar ist mit der von Muhammad Ali oder Babe Ruth."

In Chicago steht das Michael-Jordan-Denkmal. Es trägt die Inschrift: "Der Beste, den es je gab. Der Beste, den es je geben wird."

Dabei war Michael Jordan doch bloß ein Sportler.