Arm dran in München

Jan Schütte verfilmt Helmut Kraussers "Fette Welt"

Hagen ist so arm, daß er sich nicht mal eine richtige Vergangenheit leisten kann. Er hat einen Polizisten-Freund, der ihm deswegen Vorhaltungen macht. "Ich war auch mal so wie du. Ich wußte nicht, wo es lang geht. Aber wie kommt es, daß ich Polizist bin und du Penner geworden bist?"

Hagen ist kein Mann der vielen Worte. Er trägt den Namen Trinker und hat viel Durst. Wenn Hagen voll wie eine Haubitze über den Gehweg torkelt, wird er manchmal Opfer von Gewalt. Manchmal bleibt er dann einfach liegen, manchmal wird er aufgelesen, manchmal wird er wegen irgendwelcher Ordnungswidrigkeiten festgenommen. Viel mehr passiert in seinem Leben nicht.

Seine Klamotten scheint Hagen bei Humana zu klauen. Darin sieht er aus wie ein Popstar aus Hamburg, und das gefällt Judith (Julia Filimonov) ganz gut. Judith ist erst vierzehn und hat daheim Probleme. Sie hat deshalb den ersten Zug Richtung München genommen und Hagen bei den Schließfächern getroffen, weil dort die Penner gerne abhängen. "Geh zurück zu deinen Eltern!" Aber Judith will nicht auf Hagen hören, schließlich sind Mädchen in ihrem Alter so.

Man könnte jetzt die Individualgeschichten von Edda, Gustl, Stalin, dem Botschafter, Edgar und Liane erzählen, doch irgendwie haben sie auch keine. Edgar (Lars Rudolf) ist verliebt in Liane und will ihr immer was schenken. Liane (Sibylle Canonica) hängt an der Nadel, geht auf den Strich und mag Edgar nicht leiden. Sie ist sowas wie eine Teilzeit-Obdachlose mit Sozialwohnung. Sie hat einen Plattenspieler, auf dem Edgar seine Bert Kaempfert-Scheiben hört. Gustl (Stefan Dietrich) ist jung, will nach Cambridge, um zu saufen. Der Botschafter (Jürgen Hentsch) ist älter, will in München bleiben, um zu saufen. Die alte Edda (Ursula Strätz) hat auch nichts gegen München, ist aber immer knapp bei Kasse. Für einen Zwanziger überrumpelt sie Hagen mit Oralverkehr und spuckt dann sein Sperma in hohem Bogen über die Brüstung.

Szene wie diese machen den Film zu etwas Besonderem. Oder solche Dialoge: "Schlaf mit mir", sagt Judith. "Was?" fragt Hagen. "Schlaf mit mir. Ich bin kein Kind mehr." Hagen zögert. "Du willst, daß ich mit dir schlaf', obwohl du weißt, daß ich es nicht will?" Bekanntlich war die Liebe noch nie eine einfache Sache, und wenig später sind Hagen und Judith schon fest zusammen.

Dann wird Ausreißerin Judith von der Polizei gefunden und muß zu ihren Eltern nach Berlin, dann vermißt Hagen sie, dann jobbt er bei einem Leichenbestatter, dann bringt Edgar Liane um, dann ist Edgar plötzlich selber tot, dann fährt Hagen zu Judith nach Berlin, dann sucht er sie, dann bekommt er einen Husten, dann bekommt er von seiner Wirtin Medizin, dann trifft er Judith auf dem Bahnsteig, dann erzählt sie ihm, daß mit ihren Eltern alles wieder super ist, dann fragt sie Hagen, was er denn so in Berlin mache, dann sagt sie ihm "Auf Wiedersehen", dann ist Hagen traurig, dann steigt Hagen in den Zug nach Glückstadt, dann läuft schon der Abspann und Rio Reiser singt "Stiller Raum".

Die eigentliche Leistung des Films besteht darin, selbst größere Ereignisse, Andeutungen von Handlung sozusagen, gnadenlos glattzubügeln. Als Zuschauer möchte man dann ganz klassisch bildungsbürgerlich draufkommen und sich vergeblich fragen, was dieser Film wohl wollen könnte.

Er hat keinen richtigen Anfang, auf jeden Fall kein richtiges Ende, nicht mal ein offenes Ende, er hat keine Charaktere, keine richtige Geschichte, aber auch nicht richtig keine Geschichte, hat keine Spannung und keine Dramaturgie, er hat gewissermaßen so gar nichts, was ein Film hätte haben sollen, er ist gewissermaßen so arm wie seine Figuren. In diesem Sinne sagen sich hier Form und Inhalt Hallo! - nun immerhin.

Auch ein paar hübsche Dialoge fallen als Mehrwert ab. Eine Diskussion über die Kniffe französischer Küche am offenen Feuer unter einer Brücke an der Isar und über die Überwindung hemmender Ängste beim Ladendiebstahl.

"Fette Welt" ist Penner-Philosophie bei schlechtem Wetter. Zwei- bis dreimal muß man lachen, den Rest kann man hinnehmen. Jedenfalls ist kein Sozialdrama draus geworden.

"Fette Welt". D 1998. R: Jan Schütte, B: Helmut Krausser und Jan Schütte, D: Jürgen Vogel, Julia Filimonov, Stefan Dietrich, Sibylle Canonica, Lars Rudolf. Start: 28. Januar