Die abgewickelte Geschichte

Unter der rot-grünen Regierung wird Deutschland der letzte Schliff verliehen.

Seit dem 27. September 1998 strotzt Deutschland vor "Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch nicht unterlegen fühlen muß", so Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Antrittsrede. Die zentrale Legitimation der neuen Führungsschicht ist, daß sie nach 1945 oder in den letzten Jahren des Krieges geboren wurde und deshalb nicht mehr der personellen Kontinuität zum deutschen Faschismus zuzurechnen ist. Nicht umsonst wurden die historischen Debatten der letzten Jahre von eben diesen Leuten begonnen und geführt, deren zentraler Oppositionsmythos eine grundlegende Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen ist: Bevor sie die Macht übernehmen konnten, mußten die 68er sich mit der Nation versöhnen.

War der Historikerstreit von 1986 noch von der alten Rechten begonnen worden, thematisierten die Debatten nach 1989/90 das Selbstverständnis der Nachgeborenen. Schon bei der Umgestaltung der KZ-Gedenkstätten in der ehemaligen DDR 1991/1992, nutzten sie die Gelegenheit zur Abrechnung mit dem Antifaschismus. In den Gedenkstätten Sachsenhausen und Buchenwald wird seitdem auch an die Internierungslager erinnert, in denen die Rote Armee von 1945 bis 1950 vor allem Nazis einsperrte. Daß es nicht zu einer vollständigen Gleichsetzung kam, ist nur dem Protest internationaler Häftlingsverbände zu verdanken. Innerhalb Deutschlands blieb der Protest auf wenige Gruppen beschränkt.

In der Auseinandersetzung um die Umgestaltung der Neuen Wache vom DDR-"Mahnmal für die Opfer von Militarismus und Faschismus" zur gesamtdeutschen Gedenkstätte "für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" 1993 setzte sich die Gleichsetzung durch. Zugleich mit der erneuten Würdigung der "Gewissenstäter" vom 20. Juli 1944, deren Problem nicht der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, sondern die drohende Niederlage Deutschlands war, wurden am 50. Jahrestag des Attentats auf Hitler 1994 die kommunistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer den Nazis gleichgesetzt.

Die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes zum 8. Mai 1995 waren das offizielle Ende der Nachkriegszeit. Der von AntifaschistInnen befürchtete wie von der alten Rechten erhoffte Schlußstrich wurde jedoch nicht gezogen. Die Debatte um Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" 1996 diente dazu, den Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Deutschland zu verdeutlichen. Weil heute die Deutschen anständige Demokratinnen und Demokraten sind, wird das Reden über Auschwitz folgenlos, weil die Konsequenzen gezogen worden sind.

Um dies unter Beweis zu stellen, wurde aus der Debatte um die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" 1997 eine Debatte um die Ausgewogenheit deutscher Vergangenheitsbewältigung: Nun bescheinigten sich die Deutschen selbst, daß die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weitgehend abgeschlossen war. Besonders auffällig ist dies in der seit 1992 andauernden Debatte um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Die Initiative von Lea Rosh und anderen ist die Konsequenz daraus, daß nach Auschwitz eine halbwegs widerspruchsfreie deutsche Identität nur möglich wird, wenn die deutschen Verbrechen zur Legitimation der Interessen des heutigen Deutschland dienen können.

Der nächste und vorerst letzte Schritt war Martin Walsers Friedenspreis-Rede vom 11. Oktober 1998, mit der die deutsche Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit selbst zum Thema wurde. Es geht um einen Leitfaden für die Zukunft, nicht um einen Schlußstrich unter die Vergangenheit. Die Deutschen wollen aus der Nacht zum Licht, aus den Verstrickungen des "Weltbürgerkriegs" (Ernst Nolte) in die Unschuld der autoritären "Zivilgesellschaft" deutscher Prägung, für die die neue Regierung steht. Sie wollen neue Aufgaben gemeinsam anpacken und schmieden den Generationenvertrag, der die Flakhelfergeneration mit der Abi '98-Generation verbindet. Sie richten die deutsche Geschichte und damit den nationalen Auftrag neu ein. Sie werden den Hinweis auf Auschwitz genauso für ihre Zwecke gebrauchen können, wie den auf die im Grunde anständige Wehrmacht. Sie werden die Klage über die ermordeten Jüdinnen und Juden mit dem Hinweis zu kombinieren wissen, daß die Mehrheit der Berliner Kaufhäuser bis 1933 Juden gehört hat.

Sei es die PDS, die ausgerechnet die Walser-Rede zum Anlaß für ihre Amnestie-Kampagne für DDR-Angestellte nimmt, oder seien es die Linken, die zwischen dem Atomausstieg und dem Schweigen der Grünen zur nationalen Normalisierung keinen Zusammenhang entdecken mögen: Es gibt durchaus auch eine Walser-Linke, die auf die eine oder andere Weise der neuen Zeit etwas abgewinnen kann. Passend dazu sind die aktuellen linken Debatten um die Wiederkehr des Keynesianismus oder die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten die Entréebillets für die Plätze der konstruktiven Opposition der Berliner Republik. Das reformistische Abwägen zwischen verschiedenen Aspekten rotgrüner Regierungspolitik ist in erster Linie einer deutschen Sehnsucht nach "Normalität" geschuldet, die sich von der eines Walser nicht unterscheidet.