Die immerwährende Geschichte

Es gab in Deutschland nie Grund zur Entwarnung und deshalb jetzt auch keinen zur Aufregung.

Martin Walser hält in Frankfurt eine Friedenspreisrede, das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich zum 50. Mal, die DDR schließt sich der BRD an, in KZ-Gedenkstätten werden Ausstellungen über die Verbrechen des Stalinismus eingerichtet, an die Stelle einer sozialdemokratischen Bundesregierung tritt eine konservative, an die Stelle einer konservativen Bundesregierung tritt eine sozialdemokratische, deutsche Soldaten marschieren in Somalia auf, die deutsche Regierung zieht von Bonn nach Berlin um, die Dresdener Frauenkirche wird wieder aufgebaut, Kohl und Reagan schütteln sich über den SS-Gräbern von Bitburg die Hände, VW richtet einen Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter ein, der Bundestag schafft de facto das Asylrecht ab, die Bundeswehr rückt in Ex-Jugoslawien ein, das Grab von Heinz Galinski wird bei einem antisemitischen Anschlag zerstört, erstmals wird eine Bundesregierung ohne Hitlerjungs gewählt, Hoyerswerda ist Deutschlands erste ausländerfreie Stadt, die PDS fordert Amnestie für DDR-Funktionsträger, Historiker und Feuilleton streiten um Nolte, um Goldhagen, um das "Schwarzbuch des Kommunismus".

Welches dieser Ereignisse (die Liste ließe sich noch ziemlich lang fortsetzen) ist der entscheidende Punkt der deutschen Nachkriegsgeschichte; woran läßt sich am sinnbildhaftesten der Dualismus von Normalisierung und Barbarei ablesen, der unzweifelhaft die Tendenz der deutschen Nachkriegsgeschichte zumindest der letzten 15 Jahre ist?

Die Antwort muß lauten: An nichts davon, schon allein deswegen, weil sich das Adverb sinnbildhaft nicht steigern läßt. In ihrer Gesamtheit - und nur in ihrer Gesamtheit - konstituieren die genannten Ereignisse eine Tendenz. Gerade weil das, was - mit Kohl gesprochen - hinten rauskommt, so unerfreulich sein wird, verbietet es sich, alle paar Monate wieder in alarmiertes Geschrei auszubrechen und Deutschland nun endgültig jenseits der Schwelle zu sehen. Good news? Bad news: Deutschland war nie diesseits der Schwelle. Wer das Gegenteil behauptet, der kann nur unter großer Vergeßlichkeit leiden.

Ganz nebenbei unterliegt man damit wie die großen Glattbügler der Geschichte, lediglich in die andere Richtung bügelnd, der Versuchung, alles und jedes als Beleg für die eigene Theorie zu sehen. Wenn alles auf der Tendenz schwimmt wie Treibholz auf einem reißenden Fluß, kann es nicht sein, daß etwas der Tendenz zuwiderläuft. Wo heute die Tatsache, daß in der Regierung kein alter Nazi und kein Wehrmachtshaudegen mehr sitzt, als Anzeichen einer womöglich endgültigen Normalisierung gilt, da war vor zwanzig und dreißig Jahren der Fakt, daß genau das der Fall war, der Beleg für die Kontinuität mit dem Nationalsozialismus (den man damals allerdings verschämt als "Faschismus" bezeichnete).

Beide Einschätzungen sind vollkommen berechtigt, nur: Was ist daran so überraschend, daß man gleich in Wutgeheul ausbrechen muß? Wer hat eigentlich erwartet, daß nach dem Abschied der letzten Kämpfer für Führer, Volk und Vaterland aus der Politik plötzlich die große Abrechnung mit den braunen Wurzeln des Staatswesens BRD einsetzen würde? Daß dies nicht der Fall ist, kann man kühl feststellen; man kann auch seine Schlüsse aus dieser Tatsache ziehen. Aber man sollte als kritisch denkender Mensch nicht so tun, als ob es einen überraschte.

Daß Geschichte sich außerhalb des Ausnahmezustandes in verhältnismäßig kleinen Schritten vollzieht, kann und soll natürlich kein Argument dagegen sein, jeden dieser Schritte kritisch zu benennen und dort, wo es möglich ist - meinetwegen auch dort, wo es sinnlos erscheint - Widerstand zu leisten. Die Widerstandskraft des einzelnen erlahmt aber, wenn ihm mindestens einmal jedes halbe Jahr klargemacht wird, nun werde Deutschland aber wirklich gleich den entscheidenden Schritt tun. Gesellschaftliche Entwicklung wird in dieser Perspektive nur noch als Marsch von Katastrophe zu Katastrophe gesehen.

Auf der Suche nach Belegen für die Tendenz gerät dabei die Frage nach Ursachen und Wirkungen vollkommen aus dem Blick, bis man die Tendenz für die Ursache nimmt. Fertig ist eine geschichtsmechanistisches Weltbild, das mit klassischen Verschwörungstheorien zumindest gemeinsam hat, daß es für jedes große und kleine Ärgernis, von Walser bis zur Jungle World-Disko über Keynes, nur noch einen Grund kennt: eben die Geschichte selbst, die so muß, weil sie nicht anders kann.