Die Königin der Schmerzen

Der ehemaligen Weltranglisten-Ersten Stefanie Graf wird nur noch ein Gefühl entgegengebracht: Mitleid

"Dann brach sie ein. Gedemütigt. So brutal wie noch nie. Erschüttert. Es tat weh, sie so zu sehen. Schrecklich. Das bittere Aus. Tödliche Quote." Das alles schrieb die Bild-Zeitung am 28. Januar über Stefanie Graf, nachdem Monika Seles sie bei den Australian Open im Viertelfinale mit 5:7 und 1:6 aus dem Wettbewerb geworfen hatte.

Noch wenige Tage zuvor war Graf sich ganz sicher gewesen, endlich wieder jede Topspielerin der Welt schlagen zu können. Der stern hatte schon das "erstaunlichste Comeback seit Lazarus" verkündet, die Springerpresse schrieb von Stefanies "Kick für ein neues Leben", von der Bild-Schwester Hamburger Abendblatt wurde die Sportlerin als "selbstbewußter als je zuvor und mit ungewohnter Tatkraft" gelobt.

Die Autorin Doris Henkel wurde vor Begeisterung über Grafs fünfundzwanzigstes Comeback gar poetisch: "Im Herbst ihrer Karriere wirkt sie offener und selbstsicherer, als sie es im Frühling oder Sommer jemals war", schrieb sie mitten im Winter und beschrieb eine Welt voller Netze und Linien. "In dieser Welt zwischen den Linien war sie sicher, dahinter aber lauern die Dämonen." So ist das mit dem Koks: Solange die Linien liegen, ist die Welt in Ordnung, aber wehe, wenn Geld und Koks zur Neige gehen, dann lauert die Paranoia. Nicht so bei der Graf, die hat, bei allem Respekt vor ihrer Nase, nie auch nur ein Nanogramm Suchtgift konsumiert.

Stefanie hatte andere Probleme und fürchtete andere Dämonen: Martina Navratilova, die ausgebuffte Sabatini, die keifende und stöhnende Seles, den ehrgeizigen, besoffenen Vater, vor allem aber fürchtete sie die unzähligen Verletzungen. Und trotzdem hat sie es geschafft: Sie ist zur erfolgreichsten Tennisspielerin aller Zeiten geworden, jedenfalls an den eingespielten Preisgeldern gemessen. 21 Millionen hat sie mit ihrem "krachenden, pfeilschnellen Vorhandschlag" (Henkel) auf den Plätzen dieser Welt erkämpft (fast aus Versehen, denn sie hat "nie wegen des Geldes gespielt"), ein Vielfaches davon hat sie mit Werbung für z.B. Opel, Porsche, Barilla-Nudeln und Appolinaris-Wasser verdient.

Beneidenswert, doch es ist nicht der Neid, der hinter all dem Unfug steckt, der über Graf geschrieben und gesagt wird, es ist ein anderes Gefühl: Mitleid. Keine Fernsehreportage, kein Portrait, kein Interview, in dem nicht die tausend fürchterlichen Leiden der Stefanie Graf bejammert werden. "Was die Arme alles mitmachen muß", klagt dann auch so manche Seniorin, die wegen der kaputten Hüfte nicht mehr allein aus dem Sessel hochkommt, während sie Steffi auf der Pressekonferenz betrachtet, wo die wieder einmal der ganzen Welt die Geschichte ihrer schmerzenden Nagelbettentzündung samt Therapie, Krankheits- und Heilungsverlauf erzählt. Erzählte die Seniorin ihre Leidensgeschichte, nähmen wir vor Langeweile Reißaus. Stefanie Graf aber hören wir ohne Not, wenn auch ebenso angeödet, zu - nicht mal Medizinstudenten im achten Semester kannten die Patellasehne, bevor sie sich bei Graf dehnte. Und nun ist uns dieses Körperteil so geläufig wie das Nutellabrot.

Warum um Gottes Willen aber langweilt man ein ganzes Volk mit diesem Krankheits- und Verletzungsschmarrn? Die Antwort ist einfach: Weil alles andere an Stefanie Graf noch langweiliger ist. Die bellizistische Rhetorik angesichts der Niederlage gegen die Serbin Seles klingt da fast schon wie ein Hilferuf der Bild-Zeitungsschreiber. Gemeint ist: Verpiß dich, Steffi, es gibt absolut nichts mehr über dich zu sagen.

Denn die Pflichtübung der Presse, nationale Helden zu feiern, ist bei Graf zur Crux geworden. Die erfolgreichste Tennisspielerin der Welt ist nun mal eine Heldin, die gefeiert werden will; seit nunmehr fast 17 Jahren gibt die Presse daher ihr Bestes, um eine langweilige Frau aus einem langweiligen Provinznest so darzustellen, daß sie das Bedürfnis nach einer deutschen Königin der Herzen befriedigt. Mit vereinten Kräften bastelt man immer noch am Image der hübschen, klugen, charmanten Weltbürgerin - doch jede Pressekonferenz, auf der Graf wieder derart näselnd, als habe sie Schnupfen und die Zahnspange sei verrutscht, ihre Leiden schildert, macht die Arbeit von zig Artdirektoren, Regisseuren, Imageberatern und Kosmetikakrobaten wieder zunichte.

Unvergessen wird die Steffi-is-beautiful-Kampagne bleiben, mit der Bild einst dreist abendländisches Ästhetikempfinden auf den Kopf stellen wollte und dem deutschen Mann befahl, Steffi hübscher zu finden als alle ihre Konkurrentinnen. Zu Recht schnell vergessen war dagegen die unsägliche Graf-Huldigung auf Sat.1 von Reinhold Beckmann. Eine geschlagene Dreiviertelstunde lang schleimte Beckmann damals die Gräfin aufs Unappetitlichste an, unterbrochen von unbeholfenen kleinen Filmbeiträgen des Brudergrafs über seine Schwester.

Auf die Spitze getrieben wurde die Sendung durch eine gemeinschaftliche Justizschelte Graf / Beckmann, nach dem Motto: Schlägertypen, Haschdealer und allerhand anderes Gesocks laufen frei herum, und deinen Papa sperren sie ein, die sozialneidischen Richter. Beckmanns unterwürfiges Gehudel machte ihn zum Superliebling der Öffentlich-Rechtlichen, Stefanie Grafs Image half das alles jedoch nicht viel.Selbst die Löwen, zwischen denen die Tierfreundin Graf für den World-Wildlife-Fund-Kalender 1999 posierte, können auf den Fotos nur mühsam ein Gähnen unterdrücken; wahrscheinlich mußten sie sich während des Shootings endlose Geschichten über Knorpelabsplitterungen im Knie anhören.

Sogar die Italiener versuchten zu helfen, aus Stefanie eine kesse Nudel zu machen, um ihre Spaghetti zu verkaufen. Ebenfalls erfolglos: In unserem Penny-Supermarkt ist die Marke Barilla seitdem aus den Regalen verschwunden.

Alle solche Kampagnen sind am Ende auf armseligste Weise fehlgeschlagen. Stefanie Graf blieb so langweilig, wie sie immer war. Appolinaris-Mineralwasser war da noch der kompatibelste Sponsor, das fade Wasser mit wenig Kohlensäure hat zumindest Ähnlichkeit mit der ehemaligen Weltmeisterin. Das einzig Interessante an ihr sind nach wie vor ihre Leiden, weil also partout keine Königin der Herzen aus ihr werden wollte, machte die Presse aus ihr eine Königin der Schmerzen. Deren größter Wunsch, wichtiger als der Wimbledon-Sieg, ist, daß sie "wieder jeden Tag schmerzfrei spielen und trainieren kann". Man möchte der "Grand Old Lady des Tennis" (Washington Post) aus Mitgefühl eine Patellasehne spenden, falls ein gewöhnlicher Mensch so etwas überhaupt hat.

Sicher tut man ihr aber Unrecht, wenn man sie einen Jammerlappen nennt, sie kann nichts dafür, daß sie immer wieder nach ihren Verletzungen gefragt wird. Sie hat auch nie selbst behauptet, hübscher zu sein als irgendeine ihre Tenniskonkurrentinnen. Und sie hat vielleicht Monika nach dem Mordversuch durch deren einzigen Fan nicht im Krankenhaus besucht, immerhin aber diesen auch nicht im Knast. Sie ist auch nicht schuld daran, daß ihr Vater den Hals und die Taschen nicht vollkriegen konnte und schließlich ebenfalls im Gefängnis landete (ihn hat sie wenigstens besucht).

Nein, sie ist nicht schuld daran, wenn nach halbminütigen Meldungen über grausame Massaker, Hungersnöte und Erdbeben mit Tausenden Toten im Fernsehen dann im Anschluß eine Stunde lang über einen möglichen Haarriß in ihren Unterarmmuskeln palavert wird. Nicht mal Schuld trägt sie. Selbst dafür ist sie zu langweilig, sie ist ein Mensch ohne Geheimnis und sie weiß das. "Ich bin", sagt sie, "überhaupt kein geheimnisvoller Mensch, ich setze mich auch nicht deprimiert vollkommen allein in einen vollkommen dunklen Raum." Das tun wir jedoch, wenn sie nicht bald endlich von der Bildfläche verschwindet. Uns fällt einfach nichts mehr ein.

Deshalb, im Namen der gelangweilten Öffentlichkeit: Danke, das genügt, Stefanie, treten Sie ab.