Laizistisches Credo

Der Kopftuch-Streit in Frankreich: Zwischen Rassismus und Verteidigung der Republik

Im Januar 1999 spitzte sich, nach zweieinhalb Jahren relativer Ruhe um dieses Thema, einer der heikelsten Dauerkonflikte der französischen Innenpolitik wieder zu: Der Unterrichtsstreik in der normannischen Kleinstadt Flers, an dem sich 95 Prozent des örtlichen Lehrpersonals beteiligten, um gegen das Tragen von Kopfverhüllungen durch muslimische Schülerinnen zu protestieren, brachte die sogenannte Schleieraffäre erneut ins Gespräch.

Diese Debatte war zum ersten Mal 1989 auf einen Höhepunkt zugesteuert, in dessen Folge der französische Staatsgerichtshof (Conseil d'ƒtat) - auf Intervention des damaligen Bildungsministers Lionel Jospin - eine "Empfehlung" aussprach. Bis heute umstritten bleibt der genaue Sinngehalt dieser höchstrichterlichen Orientierungsvorgabe. Wie kommt es aber, daß dieser Streit derart die Gefühle in Wallung bringt?

Einige Indizien geben zunächst Anlaß zu der Vermutung, daß der Zusammenstoß zwischen Rassismus einerseits und universalistischen Konzeptionen des Zusammenlebens andererseits den Hintergrund der Diskussion bildet. Doch die Dinge liegen, wie sich alsbald herausstellt, bei weitem nicht so einfach.

Unzweifelhaft ist freilich, daß rassistische und vor allem anti-maghrebinische Stimmungen in weiten Teilen der Gesellschaft den Resonanzboden abgeben, der durch diese Debatte zum Schwingen gebracht wird. Darauf deutet auch die offensive Einmischung des neofaschistischen Ideologen Bruno Mégret im jüngsten Schulkonflikt in Flers hin - aber dieser verstand es schon immer und überall, soziale oder politische Frontstellungen in sein national-ethnisches Konzept zu pressen. Dies bedeutet nicht automatisch, daß die Ausgangsfragestellung oder der tatsächliche Konfliktpunkt aus einem rassistischen Kontext stammen oder in ihn hineinpassen würden.

Die militanten Gegner des Schleier- oder Kopftuchtragens in öffentlichen Schulen, darunter ein Teil der Lehrergewerkschaften (am schärfsten Force Ouvrière), greifen keineswegs auf Ideen zurück, wie die neofaschistischen Agitatoren sie hätten formulieren können. Vielmehr geht es ihnen um die Verteidigung der historischen Errungenschaft des spezifisch französischen Laizismus, also der strikten Trennung von Kirche und Staat, in deren Folge Religion - sei es in Form von konfessionellem Unterricht oder von Kruzifixen an den Wänden des Klassenzimmers - in den öffentlichen Schulen der Republik nichts zu suchen hat.

Dieser Laizismus, erstmals unter der bürgerlich-liberalen Revolution nach 1789 eingeführt, wurde in seiner nunmehr dauerhaft bestehenden Form im Jahre 1905 etabliert, eine Folge der damaligen Regierungsübernahme durch die sozialistischen Arbeiterparteien - erstmals in der europäischen Geschichte - im Bunde mit den Linksliberalen. Dieser Zusammenschluß wiederum war aus einem (antifaschistischen) Verteidigungsbündnis zum Schutze der bürgerlichen Demokratie im Gefolge der Dreyfus-Affäre entstanden. Zu den Gegnern des Bündnisses von 1905 zählte insbesondere die Katholische Kirche.

Und dies war das laizistische Credo: Die Zugehörigkeit einer Person zu einer religiösen Konfession, die noch dazu von dieser nicht frei gewählt, sondern durch ihre Eltern bestimmt worden ist, sollte keinerlei Einfluß auf ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausüben können. Religiöse Erkennungszeichen, auch persönlicher Art, waren deshalb nicht zu dulden - denn das sichtbare Bekenntnis schuf das Risiko, daß Diskussionen unter den SchülerInnen über die Frage des "richtigen" oder "falschen" Glaubens aufkämen. In bewegten Zeiten wie am Ausgang der Dreyfus-Affäre war es in den Augen der Gesetzgeber vorzuziehen, dieses Risiko einer konfessionellen Polarisierung nach Möglichkeit auszuschalten.

Der Conseil d'ƒtat, dessen Rechtsprechung unter bestimmten Umständen den Ausschluß einer Kopfbedeckung tragenden Schülerin vom Unterricht zuläßt, stützt sich nicht zufällig auf genau dieselben Gesetzestexte, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Schulstreit zwischen der laizistischen Republik und ihren klerikalen Gegnern zur Anwendung kamen. Danach, so die damals zur Befriedung der aufgewühlten Streitfronten ergangene Rechtsprechung, war gegen das Tragen individueller religiöser Symbole am Körper dann nichts einzuwenden, wenn diese nicht zur Schaffung einer Situation des "Missionarismus" oder den Drucks durch ihre Träger auf Angehörige derselben Konfession beitrugen.

Demnach war nicht auf das individuelle Symbol, sondern auf die Gesamtsituation abzustellen: Resultierte aus dieser ein Konformitätsdruck auf sich nicht nach außen hin bekennende Mitglieder derselben Religionsgemeinschaft, so war ihr ein Ende zu setzen. Dasselbe Prinzip hat dem Staatsgerichtshof zufolge für die kopftuchtragenden Schülerinnen zu gelten: Ihre Kopfbedeckung ist dann zu verbieten, wenn sie unter Würdigung der Gesamtumstände "missionarisch" oder einschüchternd auf andere muslimische Kinder wirkt.

Der Universalismus der laizistischen Prinzipien drohte jedoch in den Jahrzehnten, die auf die Gesetzgebung von 1905 folgten, durch die Realität einer kolonialen bzw. postkolonialen Gesellschaft pervertiert zu werden. Sobald der laizistische Universalismus nämlich zum Anspruch der dominierenden Mehrheitsgesellschaft an die (ehemals) Kolonisierten wurde, verband er sich unweigerlich mit dem Herrschaftsgefälle zwischen Weißen und Angehörigen der "Kolonialvölker", das die Basis der gesellschaftlichen Ordnung ausmachte. Umgekehrt beeinflußte dieses ethnisch definierte Machtgefälle innerhalb der Immigrationsbevölkerung wie auch in den früheren Kolonien die dortigen innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen modern-liberalen und reaktionär-klerikalen Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben.

Die religiösen Weltanschauungen und Lebensformen gewannen so eine neue Legitimität, weil sie die "eigenen", "nicht fremdbestimmten" waren. Dies macht eine der großen Schwierigkeiten des Kopftuch-Streits aus. Die algerischstämmige Französin Hanifa Scherifi, die seit 1994 vom Bildungsministerium als Vermittlerin in Hunderten von Streitfällen in Schulklassen aller Altersstufen eingesetzt wurde, berichtet von unterschiedlichen Konfliktkonstellationen, die auch die zwei folgenden Extremfälle charakterisieren. Auf der einen Seite stehen die Fälle der meist jüngsten Altersgruppe zehn- bis zwölfjähriger Mädchen, denen von ihrer Familie tiefsitzende Angstvorstellungen eingeredet wurden: "Wenn ich meine Haare zeige, dann muß ich in der Hölle schmoren."

Auf der anderen Seite stehen jene oft schon älteren Schülerinnen, die von sich aus verschleiert gehen, deren Eltern aber schlicht gar nichts zu sagen haben oder mitunter sogar vom Kopftuchtragen mit dem Argument abraten, an die schulische oder berufliche Zukunft zu denken. In diesen Fällen stehen meist Gruppen von Gleichaltrigen unterstützend hinter den Betroffenen, die auf mehr oder minder radikalisierte Weise die "Rückkehr zu den Wurzeln" als Form der Revolte gegen die sie umgebende und dominierende Gesellschaft predigen, oft einschließlich der Eltern, die - da häufig Analphabeten - der Unkenntnis der eigenen Religion und der Nachgiebigkeit gegenüber den Anforderungen der weißen Gesellschaft beschuldigt werden.

Eine Art von reaktionärer Revolte also. Denn natürlich bleibt die religiös begründete Vorschrift, wonach die Frauen zu ihrem "Schutz vor Begehrlichkeiten der Männer" ihren Körper inklusive ihrer Haare zu verdecken haben, repressiv - sowohl wegen ihres Charakters als symbolischer Barriere als auch wegen des Verbots für die Frauen, anderen als ihrem Ehemann ihr Äußeres zu zeigen. Die einzig mögliche sexuelle Lebensform für die Frauen bleibt damit die Ehe, für die der Partner wegen der genannten Hürden noch dazu nicht immer frei gewählt ist.

Wegen all dieser Faktoren ist es schwierig, sich auf ein bestimmtes Umgehen mit den verschiedenen Schülerinnen festzulegen. Eine generelle Befürwortung des Ausschlusses von ihren Kopf verhüllenden Schülerinnen vom Unterricht wäre zweifelhaft katastrophal, da gerade die intensivem Druck ihrer Familie oder ihrer community ausgesetzten Mädchen dadurch nur umso tiefer in die Arme ihrer vermeintlichen natürlichen Gemeinschaft getrieben würden: Die dauerhaft vom Schulbesuch Ausgeschlossenen besitzen die gesetzliche Möglichkeit, beim CNED (Institut für Fernunterricht) in allen schulischen Fächern unterwiesen zu werden, ohne das Haus zu verlassen.

Ein genereller Verzicht auf die laizistische Opposition gegen den Eingriff religiöser Prinzipien in das öffentliche Bildungswesen wäre aber ebenso fatal, denn wenn muslimische Schülerinnen etwa durch ihre Eltern mit dem Argument des Kopftuchtragens vom Sport- oder Schwimmunterricht ausgeschlossen werden können, so wäre z.B. für christliche Fundamentalisten die Möglichkeit gegeben, ihre Kinder vom Biologieunterricht abzumelden - weil die Evolutionstheorie ihren Glauben verletze.

Da die muslimische Religion aber, im Gegensatz zum Katholizismus im frühen 20. Jahrhundert, keineswegs eine dominierende gesellschaftliche Kraft darstellt, sondern im Gegenteil überwiegend von in vieler Hinsicht schlechtergestellten Bevölkerungsgruppen praktiziert wird, wäre eine starke Abmilderung der Anforderungen, mit denen die betroffenen Kinder von Amts wegen konfrontiert werden, nur zu befürworten. Eine Differenzierung, die Rücksicht nimmt auf die Situation der betroffenen Bevölkerungsgruppen, droht die universalistischen Prinzipien nicht zu gefährden - sofern sie vor einem vollkommenen Kulturrelativismus haltmacht, der die Individuen und ihre Rechte schutzlos den dominierenden Kulturvorstellungen innerhalb der "natürlichen Gesellschaft" ausliefert.