Zwangssterilisierung in Schweden

Wieviel kostet ein Menschenrecht?

Mehr als 60 000 Menschen wurden in Schweden zwischen 1935 und 1975 zwangssterilisiert: weil sie behindert waren, als "Zigeuner" galten oder einfach nur so einen "unmoralischen Lebenswandel" führten. Jetzt, zwei Jahre, nachdem diese sozialtechnokratische Routine der Öffentlichkeit als Skandal enthüllt worden war, hat die schwedische Regierung bechlossen, Schadenersatz zu leisten: 40 000 Mark soll jede (und jeder) erhalten, die nachweisen kann, gegen ihren (seinen) Willen sterilisiert worden zu sein. Der Nachweis wird oft schwer zu führen sein - schließlich war es ein Ziel der Ärzte und Behörden, die Betroffenen so zu bedrängen, daß sie "freiwillig" der Durchführung des folgenreichen Eingriffs zustimmten.

Aber dieser Einwand und die Feststellung, daß 40 000 Mark eine lächerlich geringe Entschädigungssumme sind, verfehlen das zentrale Problem der Debatte: Die unfreiwillige Sterilisation ist nichts Vergangenes; das Unwert-Urteil, das bis weit in die siebziger Jahre hinein Ärzte und Sozialbehörden motiviert hat, Menschen ihre Zeugungsfähigkeit zu nehmen, wird im Westen auch heute noch gefällt - und nicht einmal notwendigerweise mit anderen Konsequenzen.

Im bundesdeutschen BGB beispielsweise wurde noch 1990 der Paragraph 1 905 (Sterilisation) eingeführt, der bei "Einwilligungsunfähigen" die Unfruchtbarmachung juristisch absichert, wenn "der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird" und "anzunehmen ist, daß es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde". Zwar darf die Sterilisation "dem Willen des Betreuten nicht widersprechen" - nur wird dieser Wille eben von Nichtbehinderten erschlossen, z.B. von Richtern, die, wie kürzlich das Oberlandesgericht Frankfurt/Main, es auch für einen Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes einer schwerbehinderten, im Wachkoma liegenden Frau halten, wenn ihr die künstliche Ernährung vorenthalten wird, sie also verhungern soll.

Menschen mit schweren geistigen Behinderungen sollen sich nicht auch noch fortpflanzen. Zwar vertritt heute kaum mehr jemand offen eugenische Ideale, das ist aber auch gar nicht nötig: Es existiert ein Grundkonsens in der Bevölkerung, daß, Gleichheit und Freiheit zu wahren, ein Anspruch ist, der an eine mindestens "normale" biologische Konstitution gebunden ist. Wie diese "Normalität" beschaffen ist, wo die Grenzen gezogen werden, ist nicht festgelegt. Derzeit verläuft der Definitionsprozeß etwas liberaler: Juden, Roma und Schwarze sind als Zulieferer für den Genpool akzeptiert, Menschen mit Down-Syndrom oder anderen geistigen Behinderungen bleiben dagegen unerwünscht.

Angesichts der Tendenz zur Biologisierung in den westlichen Gesellschaften, die eng an die Zunahme von Steuerungsfähigkeiten durch die Medizin einhergehen, ist davon auszugehen, daß die Grenzen künftig wieder enger gezogen werden. Daher verwundert es auch nicht, daß die schwedische Regierung den Zwangssterilisierten eine Entschädigung zugestanden hat, das Gesetz selbst aber nicht formell als "verfassungswidriges Unrecht" aufheben lassen will. Der unfreiwillige Eingriff in die körperliche Integrität von Menschen aus frei definierten Gruppen soll ja gerade weiter möglich bleiben.

Das "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" (Bioethikkonvention) des Europarates, das auch von Schweden 1997 unterzeichnet worden ist, liefert für solche fremdbestimmten Interventionen eine zukunftsweisende Rechtsgrundlage: Es geht darin zwar nicht um Zwangssterilisationen, aber auch um die Eliminierung von etwas, was als "gesellschaftliches Leid" verstanden wird und wofür Menschen mit Behinderungen ein Sonderopfer erbringen sollen: Sie sollen für die fremdnützige Forschung zur Verfügung stehen.

Bei der Debatte in Schweden geht es also nicht um unselige rassehygienische Vorstellungen. Das Thema ist die Verfügbarkeit des Körpers und damit auch des Selbstbestimmungsrechts von Menschen, die als "anders" definiert sind durch die Gemeinschaft der "Normalen".

Der Schlußstrich, der in Schweden gezogen wird, ist so nur der Strich, unter dem etwas bilanziert wird, was als Skandal enthüllt werden konnte, weil es den heutigen gesellschaftssanitären Anforderungen ohnedies nicht mehr genügt. 40 000 Mark für ein paar tausend Überlebende. Für die Rechnungen mit ein paar Unbekannten, die gerade neu aufgemacht werden, ist das keine beängstigend hohe Summe. Menschenrechte haben keinen hohen Preis. Und in Euro ist es nicht einmal die Hälfte ...