Kritik der politischen Anatomie

Von der Rassenhygiene zur Humangenetik: Ein Versuch, die scheinbare Eigendynamik der Biotechnologie zu beschreiben

Die Biotechnologie gilt nicht nur Kanzler Schröder und seinem Wirtschaftsminister als neue Zukunftstechnologie, die es staatlich besonders zu fördern gelte; auch im internationalen Maßstab stellen sich die Staaten in die Warteschlange bei biotechnologischen Konzernen, um den Anschluß an die technologische Entwicklung nicht zu verpassen.

Die Bioethik-Kommissionen werden als Legitimierungsinstanzen dieser Forschung und Anwendung unter der rot-grünen Bundesregierung weiter wuchern, steht doch schon im Koalitionsvertrag, daß "die verantwortbaren Innovationspotentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterentwickelt" werden.

Die Entwicklungsrichtung, die diese staatlich gewollte und geförderte Technik nimmt, ist in unvergleichlichem Neudeutsch im Koalitionsvertrag ebenfalls festgeschrieben: "Wir werden den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor genetischer Diskriminierung insbesondere im Bereich der Kranken- und Lebensversicherung gewährleisten". Das bedeutet nichts anderes, als daß es bereits entsprechende Pläne der Industrie und der Versicherer gibt, Gentests und Gentherapien einzuführen, was die Bundesregierung politisch umsetzen und legitimieren wird.

Lange Zeit galt der offizielle Minimalkompromiß zwischen Forschern, Unternehmern und Bioethikern, die in den Kommissionen der EU und der einzelnen Länder sitzen, daß Menschen auf keinen Fall geklont werden. Manipulationen an ihnen seien nicht zulässig; auch die Forschung in diesem Bereich solle unterbunden werden. Seltsamerweise produzieren - eine Sammlung von Meldungen der letzten Wochen - trotz dieses ethisch-politischen Forschungsverbots Ratten nun menschliche Spermien, sind einzelne Organe des Menschen biotechnologisch herstellbar geworden, während die künstliche Gebärmutter schon niemanden mehr ist.

In Südkorea werden nach der 1998 berühmt gewordenen Dolly-Methode - das doppelt vorhandene "glückliche" schottische Schaf - Klonversuche an menschlichen Zellen vorgenommen. Der ethisch-philosophisch-politische Diskurs hat keinerlei Auswirkung auf die Technologieentwicklung und auf die Ökonomie der Bio- und insbesondere Gentechnologie. Sicher angenommen werden kann damit auch für Europa, daß das Klonen von Menschen, zumindest von einzelnen Organen und Zellen, in den nächsten Jahren staatlich legitimiert werden wird. Die europäische Bioethik-Konvention vom letzten Jahr - das Klonverbot steht im Zusatzprotokoll - ist bereits zur Farce geworden.

Warum dies so ist und weiterhin so sein wird, kann man in einer grundlegenden Neuerscheinung zur Biopolitik des menschlichen Lebens nachlesen: in "Tod des Menschen / Macht zum Leben" von Andreas Lösch, erschienen im Herbst letzten Jahres in der Reihe "Schnittpunkt Zivilisationsprozeß" im Centaurus-Verlag, der mit dem deutlich zu hoch gegriffenen Preis das Seine dazu getan, die Verbreitung dieses kritischen Wissens zu verhindern. Andreas Lösch bietet in seiner weitgehend historisch-strukturalen Studie eine Erklärung für die scheinbare Eigendynamik der Biotechnologie an.

Die Strukturen, die die heutige Biotechnologie ermöglichen, die spezifische Verbindung von Wissen und Macht, die sie als staatliche Biopolitik der Bevölkerung auszeichnen, wird von ihm von der Rassenhygiene des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur modernen Humangenetik genealogisch herausgearbeitet.

Der Funktion der Eugenik kommt hier eine Schlüsselbedeutung zu. Die Funktion der Eugenik läßt sich in der Moderne nicht auf pseudowissenschaftliche Verirrungen durch politische Funktionalisierung der Biowissenschaften, etwa im Nationalsozialismus, reduzieren. Die Selektion und Behandlung von Menschen nach einem ihnen je eigenen "Lebenswert" ist vielmehr das grundlegende Charakteristikum des Wissens vom Menschen. Dieses Wissen kommt nämlich auf der Ebene der "Biopolitik" als politisch angewandte Humanwissenschaft ins Spiel der Macht

Diese Genealogie der Eugenik zeigt, daß der Zugriff der bevölkerungspolitischen Macht des Staates und seiner Institutionen auf den Menschen sich verlagert: Von einem Zugriff von außen auf den Körper des Menschen und auf seine Produktivität im 19. Jahrhundert entsteht langsam eine Wissenschaft vom Menschen, die den Zugriff auf die Gene des Individuums, also von innen her, entwickelt. Entspricht dem Zugriff der Macht auf den Körper von außen her die Machttechnik der Disziplinierung, so entspricht dem neuen Zugriff auf das Leben die Machttechnik der Normierung / Normalisierung. Biologie ist Politik, sie ist Biopolitik der Bevölkerung, die wesentlich über die Codes des Rassismus und der Produktivität funktioniert.

Die staatlich-technologische "Macht zum Leben" erfaßt die Bevölkerung wesentlich über den individuellen Sexus; die Eugenik als Rassenhygiene und der Rassismus und Antisemitismus des Nationalsozialismus sind ihre krassesten Ausformungen. Der Nationalsozialismus erscheint in diesem diskursiven Kontext als eine Extremvariante der modernen Normalisierungsgesellschaft.

Das scheinbar schwächste Argument des Buches stellt sich als das stärkste heraus: Denkt man beim ersten Blick auf den Titel noch, hier würde vermutlich frei assoziiert, so zeigt die Lektüre, daß der Tod des Menschen als Ende des Wissens vom Menschen ein empirisch und theoretisch nachweisbarer Fakt ist: Durch die biotechnologischen Umgestaltungen auf der Ebene der Gene und durch ihre ökonomische Verwertung - schließlich wird alles Erforschte sofort patentiert - wird der Tod des Menschen als Subjekt und als anthropologisch wie empirisch zu definierendes Wesen nicht nur philosophisch, sondern technologiekritisch und ökonomiekritisch analysiert.

Das biotechnologische Macht / Wissensdispositiv der Postmoderne besteht aus einer Normalisierung der neuen Eugenik als Euphänik. In der Schwangerschaftsberatung hat dieses neue Dispositiv bereits Einzug gehalten: "Wo die Gene sprechen, hat die Frau zu schweigen." Die Schwangere wird zur Umwelt des Embryonen-Genoms, das den Tod des - klassischen - Menschenbegriffs bedingt: "Wo der genetische Code die Sprache selbst ist, bleibt der Mensch stumm."

Die heutige biopolitische Normalisierung funktioniert über die Identität des Genoms: "Die DNS repräsentiert eine höhere, quasi göttliche Macht, die das menschliche Schicksal leitet, und die moderne Genetik ist die Instanz, die die Entlastungen bringen kann." Daher der Jubel der Schwulenbewegung, als ein angeblich schwules Gen entdeckt wurde, selbst Alkoholismus soll nicht durch deprimierende Lebensumstände, sondern genetisch bedingt sein.

Solange die Humangenomforschung als die Leitwissenschaft des nächsten Jahrtausends gilt, werden derlei irrwitzige "Entdeckungen" beinahe täglich gemacht werden. Durch die genetische Prävention, die ein Wunsch der (Bevölkerungs-) Politik ist, werden Individuum und Gesellschaft herrschaftlich verbunden: Das selbstverantwortliche Subjekt soll, sofern vernünftig, die Angebote "freiwillig" nutzen; es hat aber die Norm, welche Gene denn die normalen und erwünschten und welche die pathologischen sein sollen, selbstverständlich zu akzeptieren.

Klar wird, daß im Anschluß an Foucault, insbesondere an seine genealogische Methode, eine Kritik der politischen Anatomie in den Bereich der Möglichkeit kritischer Forschung gerät, der eine notwendige Ergänzung und teilweise auch eine Ablösung der Methode und des Gegenstandes der Kritik der politischen Ökonomie bedeutet. Auf das Verhältnis dieser beiden Ebenen der Herrschafts- und Machtkritik einzugehen, versäumt der Autor allerdings. Hier wären Anschlüsse an den späten Foucault durchaus sinnvoll, um nicht den einen Idealismus, der alles Übel der Welt auf eine angeblich selbst prozessierende Wertform zurückführt, durch einen Idealismus der anderen Seite abzulösen, der nur noch konstatieren kann, daß irgendwie alles diskursiv, ergo durch Macht und Herrschaft produziert ist, selbst das angeblich Innerste des Menschen.

Diese Kritik der politischen Anatomie wird an die Methode, wie sie in dem "Tod des Menschen / Macht zum Leben" entwickelt und angewendet wird, anzuschließen haben. Ohne eine Kritik der politischen Vernunft, wie sie gerade Foucault in seinen letzten Arbeitsjahren entwickelt hat, wird sie allerdings etwas isoliert dastehen, wenn die Frage darauf kommt, wie die ganze Chose denn nun endlich abgeschafft werden kann. Gleiches gilt für die im Buch nur angedeutete politische Ökonomie der Biotechnologie.

Schief liegt der Autor wohl mit seiner These, die Sozialtechnologie des modernen Staates werde durch die Biotechnologie abgelöst oder ersetzt. Als gesellschaftlich wirksame Technologie ist die Biotechnologie schlicht Sozialtechnologie; schließlich wird eine Gentherapie in Deutschland von der Politik und den Krankenkassen vorgeschrieben werden, wie jetzt schon die Schwangerschaftsberatung. Daß das Leben und die Evolution eine durch Technik zu manipulierende genetische Information darstellt, ist dabei das Credo. Und wer diese ändern kann, braucht die Gesellschaft nicht zu ändern.

Andreas Lösch: Tod des Menschen / Macht zum Leben. Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Centaurus, Pfaffenweiler 1998, 138 S., DM 49,80