Radfahren im Schwarzwald

Gefährliche Orte LIII: Wer einen Tag in der U-Bahn verbringt, gefährdet seine Gesundheit

Müde sitzen die Fahrgäste in einigem Abstand auf den Plastikbänken. Einige sind gerade erst aufgestanden und schlafen schon wieder ein. Andere lesen im grellen Neonlicht die Zeitung. Eine leere Coca-Cola-Dose rollt durch den Gang und schlägt einem Jungen gegen die Schuhe. Über ihm hängt ein Plakat: "Egal, wo Sie hinwollen, wir haben denselben Weg. BVG."

Auf dem Sitz gegenüber liegt aufgeschlagen ein Werbeprospekt. Ein Naturfreundehaus wirbt für Seminare über Vogelstimmen, einzeln und im Konzert, für Skilanglauf und Naturmeditation und für Radfahren im Schwarzwald. Ein Mann springt herein und setzt sich neben den Jungen. "Nach Ruhleben einsteigen, bitte. Zurückbleiben." Die Fahrt geht los.

"Nächste Haltestelle: Senefelder Platz." Der Junge holt ein paar Blätter aus seiner Tasche, der Mann beugt sich zu ihm und fragt: "Sind die Gedichte von dir?" Eine Frau schaut aus der Zeitung auf, der Junge wird rot. Er steckt die Blätter wieder ein und schaut aus dem Fenster. "Studierst du Germanistik?" fragt der Mann und redet weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. "Ich hab auch mal Germanistik studiert. Und Slawistik. Da hab ich natürlich auch viele Reisen gemacht, Osteuropa, Rußland, bis rauf nach Sibirien. Da sieht es wirklich aus wie in 'Vom Winde verweht'." Irgend etwas muß er da verwechselt haben. Der Mann hat einen Empfänger gefunden und sendet seine Botschaften in eine Welt, die davon keine Notiz nehmen will. Niemand geht auf ihn ein. Am Spittelmarkt steigt er aus und ein Flötenspieler steigt ein.

"Guten Morgen, ich habe ein kleines Morgenkonzert. Zuerst ein Potpourri aus Mozarts Zauberflöte." Die Gesichter erwachen aus einer Starre und manche ringen sich sogar ein Lächeln ab. "Und jetzt eine Ballade aus Irland." Der Junge hat seine natürliche Gesichtsfarbe zurück und gibt dem Musikanten zwei Mark. "Verabschieden möchte ich mich mit einer Polka."

Der Flötenspieler versteckt sein Instrument unter der Jacke und rennt am Potsdamer Platz zum nächsten Wagen. Dort stehen die Männer von Service & Security mit ihren blauen Uniformen. Auf dem Kopf tragen sie rote Baretts, sie haben Schäferhunde dabei und passen auf, daß nichts passiert. Manchmal, wenn wirklich nichts passiert, kontrollieren sie die Straßenmusiker.

"Das ist so eine halblegale Sache", sagt der Flötenspieler, "es kommt sehr drauf an, wie du rüberkommst und wie gut gelaunt die sind. Manche machen natürlich auch Streß, aber wenn du 'ne Fahrkarte hast, geht's." Dann setzt er wieder die Flöte an und wiederholt sein Morgenkonzert.

Radfahren im Schwarzwald ist erlaubt. Schwarzfahren im Radwald nicht, und deswegen gibt es Kontrollen. Auch, wenn die U-Bahn-Linie nur aus fünf Stationen und die Bahn nur aus zwei Wagen besteht, überprüfen uniformierte Kontrolleure die Fahrausweise in der U 4. Alle, die im zweiten Wagen sitzen und keine Fahrkarte haben, steigen am Viktoria-Luise-Platz aus, obwohl da eigentlich niemand hin will. Die Kontrolleure gucken etwas komisch, machen aber trotzdem weiter. Am Innsbrucker Platz ist Endstation. Der Zugführer geht nach vorne oder hinten, je nachdem, und fährt wieder zurück, hundertmal am Tag.

Vom Innsbrucker Platz aus ist es einigermaßen schwierig, zur Friedrichstraße zu kommen. Das dauert eine ganze Weile, lohnt sich aber, weil man da die seltsamsten Menschen treffen kann. Beispielsweise Mädchen und Jungen, die sich kennenlernen wollen, aber nicht wissen, wie. Der Junge will nach Alt-Mariendorf, das Mädchen nach Alt-Tegel. Als die Bahn kommt, steigen sie gemeinsam ein, aber nicht gemeinsam aus. Einen Tag später wird der Junge im Radio anrufen und eine Suchmeldung aufgeben.

Sie wird sich nicht melden, und er wird vergeblich zwischen Schwartzkopfstraße und Friedrichstraße pendeln. Nur mittags hat er eine Chance, sie wiederzusehen. Dann ist es für einen Moment ruhig. Eine Frau zieht sich den Lidstrich nach und ein Müllmann versucht sich an der Zahlenkombination eines Fahrradschlosses, das an einem Geländer hängt.

Mit der Rush-Hour hat die Stunde der Straßenverkäufer geschlagen. "Tschuldigung, wenn ich Sie störe. Ich verkaufe die motz. Das Thema diesmal lautet 'Fette Welt'. Da ist ein Interview mit Christian Ströbele drin. Auf der Rückseite befindet sich eine Adresse mit Telefonnummern. Dort können Sie anrufen oder sich hinwenden, wenn Sie Möbel, Anziehsachen oder auch andere Dinge wie Bücher und Geschirr haben, die nicht mehr benötigen oder loswerden möchten. Wir holen die Sachen kostenlos bei Ihnen ab. Von den zwei Mark, die die Zeitung kostet, fließt ein Teil in soziale Projekte, von dem Rest versuche ich, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen angenehmen und schönen Freitagabend und ein schönes Wochenende." Ein alter Mann wühlt in seiner Tasche und holt ein Markstück heraus. "Nur eine Mark", sagt er, "ich möchte keine Zeitung."

Der Zeitungsverkäufer steigt Gneisenaustraße aus und eine Frau mit einem Aufnäher der US-amerikanischen Flagge auf der Jacke steigt ein. "Guten Abend, Zivilkontrolle." Sie zeigt ihren Ausweis und der alte Mann ruft: "Andre werden überfallen, wir werden kontrolliert." Er sieht sich um, sucht in seinen Taschen nach dem Fahrschein, aber am Südstern muß er aussteigen, damit seine Personalien erfaßt werden können.

"Wegen eines kranken Fahrgasts ist der Zugverkehr auf der Linie eins zwischen Kottbusser Tor und Gleisdreieck vorübergehend unterbrochen. SEV ist bereitgestellt." Eine Frau meint: "Das glaubt doch kein Mensch. Da hat sich doch wieder einer vor den Zug geschmissen." Keiner geht auf sie ein, und am Kottbusser Tor beruhigt ein Polizist die Wartenden: "Fahrgastunfall, die betreffende Person wird wiederbelebt. Es geht gleich weiter." Dieses Ereignis stiftet sofort ein Gemeinschaftsgefühl. Fremde Menschen stehen plötzlich in Gruppen zusammen und unterhalten sich. Vereinzelt kommt sogar sowas wie Bierzeltatmosphäre auf.

Für einen reibungslosen Ablauf ist gesorgt, und der Anschluß zur Warschauer Straße ist gesichert. Das paßt einem Betrunkenen aber trotzdem nicht. Er hält sich an der Tür fest und brüllt seinen Freund an, der versucht, ihn in die Bahn zu ziehen. "Warschauer Straße. Bitte einsteigen". "Ich will nicht nach Warschau, ich will nach Berlin", ruft der Mann. "Wir sind in Berlin, du Idiot", sagt der andere und holt eine Dose Bier aus der Jackentasche. Der Betrunkene wird versöhnlich. "Zurückbleiben!" Die Türen gehen zu, das Bier auf, es schäumt. "Ich will nach Hause", sagt er. "Nach Hause? Wohin denn?"

"Warschauer Straße. Endhaltestelle. Alle aussteigen." Im Gang liegt ein aufgerissener Briefumschlag mit einer guten Nachricht: "Sie haben es geschafft - Ihr Darlehen ist zurückgezahlt." Die Türen öffnen sich, und eine Durchsage gibt bekannt, daß der Zugverkehr auf der U-Bahn Linie eins wieder durchgehend aufgenommen worden ist. Es ist also alles in Ordnung. Fast wie im Schwarzwald.