Demokratie als Fiktion

Die türkische Linke träumt von einer Zivilgesellschaft, die nicht im Angebot ist.

Echte Demokratie soll auch in der Türkei möglich werden dank massenhaften Drucks von unten, den die kurdische Nationalbewegung und die vorwiegend westtürkische demokratische Linke ausüben sollen. Dieses Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten findet sich bei der Mehrheit der Linken aus der Türkei. So auch bei Deniz Yücel.

Yücel hält einen Satz aus dem türkischen Anti-Terror-Gesetz, wonach es verbrecherisch sei, "Haß und Feindschaft zwischen Klassen, Sprachen, Religionen und Konfessionen zu schüren", für undemokratisch. Dabei drückt gerade dieser Satz aus dem zu Recht so befeindeten Gesetz ein glühendes Bekenntnis zur Demokratie aus. Die Versöhnung zwischen Klassen, Sprachen und Religionen ist das Wesen jedes demokratischen Staates, dagegen aufzubegehren, also Haß zu säen, ein Kapitalverbrechen. Ein vergleichender Blick ins Grundgesetz oder eine beliebige andere westliche Verfassung verdeutlicht das. Anti-Terror-Gesetze sind keine türkische Besonderheit und schon gar keine undemokratische Abweichung. Das gleiche gilt für den nationalen Sicherheitsrat (MGK) der Ausnahmezustandsadministration. Jeder demokratische Staat behält sich ein Notstandsrecht vor und hat in Umrissen sein MGK in der Schublade. Ein Vergleich mit der nationalen Bewältigung des westdeutschen "Terrorproblems" 1977 durch Notstandskabinett und Krisenstab bestätigt das schlagend.

In der Türkei herrscht partieller Ausnahmezustand, weil der Staat sich durch Separatismus, religiösen Fundamentalismus und Linksradikalismus bedroht sieht. Seine linken Kritiker verweisen statt dessen auf die Verbindung zwischen Banden und Staatspersonal, wie sie im Susurluk-Skandal deutlich geworden ist, und auf die starke rechtsradikale Partei MHP. Ausnahmezustandstatbestände formulieren auch sie und melden, ob sie wollen oder nicht, staatlichen Handlungsbedarf an.

Radikaldemokraten entgehen dem Dilemma regelmäßig durch den Hinweis auf den unbestreitbaren Staatsterror, zu dessen Opfern sie schließlich selber gehören. So bieten sie sich als unverdächtige, weil unverbrauchte Hoffnungsträger für eine bessere Demokratie an.

Daß kein Staat existieren kann, der nicht eine homogene Gesellschaft als sein Volk sich zurechtmacht, dürfte ihnen bekannt sein. Sie lösen das Kurdenproblem eben alternativ zur herrschenden Ideologie als freie Assoziation aller in der Türkei lebenden Völker. Dieses Kunststück bringt nur fertig, wer dem völkischen Nationalismus der Kurden und Türken einen verbindlichen dritten überstülpen kann, der geeignet ist, die beiden Partikularnationalismen aufzuheben. In der Sowjetunion und in Jugoslawien war das bekanntlich der Staatssozialismus. Zwar hat auch der die Volkstumspflege befördert, statt sie austrocknen zu lassen, er konnte aber wenigstens zeitweilig eine dritte Sache konsensual anbieten: wachsenden Wohlstand für alle im Zeichen des Sozialismus.

Davon reden demokratische Sozialisten heute vorsichtshalber schon gar nicht mehr. Sie verlassen sich auf die ärgsten Ladenhüter einer Entwicklungsgeschichte, die spätestens 1989 zusammengebrochen ist: Modernisierung, Demokratisierung, Liberalisierung.

Blätter aus dem linksdemokratischen ÖDP-Spektrum beispielsweise diskutieren ernsthaft die Zivilgesellschaft. Die einzige Hoffnung, auf die sich diese Demokratiebewegung stützt, ist das zivilgesellschaftlich zurechtgelogene Kapital, vorgestellt durch die Großkonzerne Koc und Sabanci und kleinere Trendtechnologien. Dieses demokratische, dem Weltstandard entsprechende Innovationskapital, das bekanntlich vom Bürgerkrieg im Südosten wenig hält, müsse wie die angeblich nach Demokratisierung lechzende Bevölkerung nur noch den Klauen des innovationsunfähigen Staates entrissen werden, und dann kommt er, der Aufschwung, und mit ihm der Anschluß an Wohlstand und Demokratie Westeuropas. Daß die gleichen linken Gruppen gleichzeitig gegen die Privatisierungen im Staatssektor, der Millionen zwar schlecht, aber irgendwie doch versorgt, heftig polemisieren, verdeutlicht den faulen Ansatz.

Völlig verblendet erscheint schließlich die populäre, vulgär-keynesianische Illusion von den riesigen Kapitalmengen, die produktiv einzusetzen wären, wenn sie statt in die Finanzierung des Krieges in die Entwicklung der kurdischen Gebiete flössen. Als ob die Kriegswirtschaft mit ihren Banden und deren Waffen- und Rauschgifthandel nicht ein ungemein prosperierender Sektor wäre, von dem Hunderttausende leben - als Gangster, Özel-Tim-Killer oder als Dorfschützer. Auch die PKK kann nur vor diesem Hintergrund ihre sehr effiziente Steuerbehörde unterhalten. Das Ende des Krieges würde diese Gelder nicht nur in den leeren Staatskassen versiegen lassen. Im Gefolge des Friedens stünde der IWF vor der Tür, der sich auf Druck der USA hin gegenüber der Türkei außerordentlich zurückhält.

Die zivile türkische Gesellschaft, die das Demokratieprojekt erheischt, gibt es nicht und wird es heute weniger denn je geben können. Im Angebot steht allein kapitalistische Elendsverwaltung. Der Trend geht auf weiteren Zerfall von Zentralstaatlichkeit und Gesellschaft. Der kemalistische Staat verwandelt sich schleichend in eine sich ethnisierende und kulturalisierende Bandengesellschaft. Einziger Sieger in der aktuellen Auseinandersetzung kann der Islamismus als autoritärer Versöhner sein, eine Staatsideologie, die Kurden und Türken, Arme und Reiche in den gerechten Volksstaat integrieren könnte. Dieses finale Elendsprojekt hat viele Freunde besonders in Europa und allen voran in Deutschland und Frankreich, die in ihrem Kampf um den Nahen Osten als europäischen Hinterhof gegen die USA und Israel die islamische Karte spielen.

Für eine andere Perspektive bräuchte es Kommunisten - aber die machen ja in Volk und Demokratie.