Nationale Delirien

Mit der Öcalan-Entführung wachsen die Spannungen zwischen Athen und Ankara

Der Schock saß tief. Die meisten nationalistisch sowie antitürkisch gestimmten Griechen konnten es zunächst nicht fassen, daß ausgerechnet ihre Regierung den PKK-Chef Abdullah Öcalan an den Erzfeind Türkei ausgeliefert haben sollte. Die Kurden werden als Verbündete gegen die Türkei angesehen, ihr Widerstand gegen den türkischen Staat genießt große Sympathie - und damit auch die PKK.

Und doch schien es so, als wäre Öcalan unter Mitwirkung Athens nach Kenia in eine Falle gelockt worden. Die Vermutung lag nahe, Athen hätte die Öcalan-Affäre nutzen wollen, um durch eine symbolträchtige Geste das chronisch gespannte Verhältnis zum östlichen Nachbarn aufzubessern und diesen bei den Zwistigkeiten in der Ägäis und auf Zypern zu mehr Entgegenkommen zu bewegen. Gerüchte kursierten, es hätte sogar geheime Absprachen und feste Zusagen gegeben.

Klar ist jedoch nur: Griechenland hat, um einen offenen Affront gegen die Türkei und die verbündeten USA zu vermeiden, Öcalan politisches Asyl im eigenen Land verweigert. Statt dessen entschloß man sich, ihn zwischenzeitlich im fernen Kenia zu verstecken.

Dies endete allerdings mit der spektakulären Entführung Öcalans durch türkische Sicherheitskräfte unter Regie der CIA. Vermutlich beteiligte sich Athen, von den USA auf frischer Tat ertappt und unter Druck gesetzt, lediglich am Schlußakt der Operation. Unter Vorspiegelung eines günstigen Auswegs aus der Bedrängnis, in der Öcalan sich befand - es soll ihm eine Ausreise nach Holland in Aussicht gestellt worden sein -, bewegte man ihn zum Verlassen des griechischen Botschaftsgeländes.

Gegen einen Kuhhandel Athens mit Ankara spricht jedenfalls, daß sich die türkischen Offiziellen Athen in keiner Weise verpflichtet fühlen. Dies ließen schon ihre ersten Reaktionen erkennen. "Die PKK ist keine Volksbewegung. Hinter ihr stehen interessierte Kreise im Ausland, welche die Türkei schwächen und spalten wollen", resümierte der türkische Premier Bülent Ecevit im Spiegel, wie sich im wesentlichen "der Konflikt in Südostanatolien" aus der Perspektive der türkischen Machthaber darstellt. Mit dem Argument, man würde sich gegen einen äußeren, jedoch im Inneren aktiven Feind verteidigen, wird nun seit gut sechzehn Jahren die permanente Unterdrückung eines Teils der eigenen Bevölkerung gerechtfertigt.

Mit Öcalan als Kronzeugen bietet sich nun die einmalige Gelegenheit, den Beweis zu erbringen, daß es sich bei der PKK um eine kleine Gruppe ferngesteuerter Extremisten handelt. Der Ausgang des Öcalan-Prozesses - gleichgültig, ob die westlichen Medien ihm das Prädikat "rechtsstaatlich" oder "Schauprozeß" erteilen - läßt sich daher leicht voraussagen. Medienwirksam inszeniert, werden am Ende die türkische Bevölkerung und ihr Staat als Opfer einer internationalen Verschwörung verfeindeter Mächte dastehen.

Die Hauptrollen als Bösewichte werden dabei wohl Griechenland und Syrien zufallen, die auch von der offiziellen türkischen Sicherheitsdoktrin als Hauptfeinde eingestuft werden. Wahrscheinlich werden aber auch Rußland, der Iran, Armenien und einige westeuropäische Staaten, die bezichtigt werden, der PKK in der Vergangenheit gefällig gewesen zu sein, mit Nebenrollen bedacht.

Derzeit machen Politiker und Medien schon mal Stimmung gegen Griechenland. So veröffentlichte die Hürriyet die ersten "Geständnisse" Öcalans, wonach Griechenland die PKK jahrelang mit dem Nötigsten versorgt hätten: Geld, Waffen, Pässe und Stützpunkte. Selbst an Bombenanschlägen auf türkischem Territorium soll der griechische Geheimdienst beteiligt gewesen sein. Der türkische Präsident Süleyman Demirel drohte dem Nachbarn: "Wenn sich die Griechen weiterhin gesetzlos verhalten, behält sich die Türkei das Recht vor, Maßnahmen zu ihrer legitimen Verteidigung zu ergreifen."

Derweil nutzen auch in Griechenland die Nationalisten die Situation, um auf die Regierung einzuschlagen, der ohnehin schon das Stigma anhaftet, in der Außenpolitik und insbesondere gegenüber der Türkei zu nachgiebig zu sein. So wird ihr vorgeworfen, während der sogenannten Imia-Krise im Februar 1996, als es im Streit um die Hoheit über zwei der türkischen Küste unmittelbar vorgelagerte Felseninseln beinahe zum Krieg gekommen wäre, die Besetzung griechischen Territoriums durch türkische Truppen tatenlos hingenommen zu haben.

Zuletzt war unter massivem türkischem und US-Druck auf die Stationierung russischer Luftabwehrraketen auf dem griechischen Teil Zyperns verzichtet worden. Die mangelnde Bereitschaft der Regierung, offen Partei für die Kurden zu ergreifen, sowie ihre Unfähigkeit, den "Verbündeten" Öcalan zu schützen, wird nun als weiteres Symptom "nationaler" Schwäche und als Kniefall vor der Türkei gewertet.

Dies nutzt die Opposition und verfällt einem zunehmend aggressiven nationalistischen Populismus. Ostentativ vorgebrachte Rücktrittsforderungen wechseln sich ab mit offenen Beleidigungen. Den Premierminister Kostas Simitis und seine Minister als "Ohrfeigenkassierer", "Untertanen" der Türken und US-Amerikaner, "Verräter" und "Memmen" zu bezeichnen, gehört dieser Tage zum guten oppositionellen Stil.

Beide Ägäis-Nachbarn scheinen derzeit in ein nationalistisches Delirium gefallen zu sein, mit entgegengesetzten Vorzeichen allerdings. Während sich die Türken am Triumph über innere wie äußere Feinde weiden, wird in Griechenland lauthals die nationale Schmach angeprangert und gegenüber der Türkei eine härtere Gangart eingefordert.

Unter diesen Umständen ist eine weitere Zuspitzung des Konflikts zu erwarten. Einzig die im östlichen Mittelmeerraum einflußreichen USA wären in dieser, von ihnen selbst mit herbeigeführten Situation in der Lage, zwischen beiden Seiten zu vermitteln.