St. Georg als Drache

Die britische Regierung flickt seit zwei Jahren an einem veralteten Sozialsystem

Gordon Brown muß die Hosen runterlassen: Wenn der Schatzkanzler diese Woche vor dem Unterhaus den neuen Haushalt vorstellt, wird die Öffentlichkeit sehen, ob die Reform des britischen Sozialsystems zwei Jahre nach dem Labour-Wahlsieg vorangekommen ist. An der Größe des Sozialbudgets wird man ablesen können, wie erfolgreich die Regierung mit ihren Umschichtungen im Haushalt bisher gewesen ist.

Die Erneuerung des Sozialstaats ist neben der Einführung von Regionalparlamenten in Schottland, Wales und London und der Abschaffung erblicher Rechte im Oberhaus eines der großen Reformvorhaben, mit denen New Labour 1997 angetreten ist. Im Wahlmanifest von 1996 ist die Logik der Partei beschrieben: Die Verbesserung des Erziehungssystems und die Erneuerung des National Health Service, des staatlichen Gesundheitssystems, haben Priorität; und da staatliche Sozialleistungen sowieso effizienter gestaltet werden müssen, können die dabei eingesparten Gelder praktischerweise gleich für Erziehung und Gesundheit verwendet werden. So einfach ist das.

Tatsächlich leugnen nur wenige die Notwendigkeit von Reformen. Das überkommene System kostet den Staat immer mehr und bewirkt doch immer weniger. Obwohl unter den konservativen Regierungen der achtziger und neunziger Jahre der Sozialetat jährlich um vier Prozent stieg, müssen heute doppelt so viele Briten wie vor zwanzig Jahren mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens leben. Der Etat beträgt heute fast 100 Milliarden Pfund und ist damit größer als die Ausgaben für Erziehung, Gesundheit, Justiz und Polizei zusammengenommen.

Die Sozialgesetzgebung stammt größtenteils noch aus den vierziger Jahren, als unter Lord Beveridge erstmals ein moderner Sozialstaat geschaffen wurde. Von acht Pfund, die heute im Sozialetat enthalten sind, werden fünf Pfund aufgrund von Gesetzen ausgegeben, die noch vor den Beveridgeschen Reformen entstanden sind.

Tony Blair ließ nach seinem Wahlsieg keine Gelegenheit aus, die Straffung des Sozialsystems als Chefsache zu bezeichnen - die Rolle des Ritter Georg, der die schlimmsten Übel aus dem Wege räumt, gehört zum Selbstbild seiner Regierung. Die Philosophie von New Labour kann als Amerikanisierung des Sozialstaats europäischer Prägung bezeichnet werden. Jeder, der arbeiten kann, soll dies auch tun; Hilfe sollen nur diejenigen erhalten, die nicht arbeiten können. Staatliche Anstrengung soll sich darauf konzentrieren, Arbeitslosen wieder Jobs zu beschaffen, anstatt sie finanziell zu unterstützen. Jede Hilfe kann nur vorübergehenden Charakter haben. Das Prinzip trägt den Namen "Welfare-to-work", also Hilfe-zur-Arbeit.

Labour konkretisierte diese Pläne zuerst bei der Jugendarbeitslosigkeit. In ihrem 96er-Manifest erklärte die Partei, weite Teile der damals 250 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren wieder ins Arbeitsleben integrieren zu wollen. Anfang 1998 mußten Jugendliche in Pilot-Programmen zu Job-Interviews erscheinen, wenn sie weiterhin Stütze erhalten wollten. Für die Arbeitssuche stellte ihnen die Regierung außerdem Anzüge, Bahnkarten sowie einen persönlichen Wecker zur Verfügung.

Das Programm wurde einige Monate später flächendeckend eingeführt und hat die Jugendarbeitslosigkeit heute auf 120 000 reduziert. Der Erfolg des in Anlehnung an Roosevelt "New Deal" genannten Programms ermutigte die Regierung, es gleich auf andere Personengruppen auszudehnen: Ältere Arbeitslose, alleinerziehende Mütter und auch Behinderte müssen jetzt zu Interviews erscheinen, sonst gibt es keine Unterstützung mehr. Ironischerweise treibt das New Deal-Programm, der bislang größte Erfolg der Regierung im Sozialbereich, die Kosten aber nach oben, anstatt sie zu verringern: Denn jeder arbeitslosen Person soll ein persönlicher Berater gegenübersitzen.

Bei den Renten erweisen sich die Reformpläne New Labours am deutlichsten als Weiterführung und Konsolidierung des Thatcherismus. Die Regierung will eine weitgehende Privatisierung der Altersvorsorge erreichen. Hinter einem "stakeholder-pensions" genannten Programm steckt die Absicht, daß sich zwei Drittel der Beschäftigten zusätzlich privat rentenversichern und sich der Staat zunehmend aus der Verantwortung zurückzieht. Der liberale Economist machte eine radikale Rechnung auf, die Margret Thatcher erfreuen würde: Wenn sich die gesamte Bevölkerung komplett privat versichert, würde das ein Drittel des Sozialhaushaltes einsparen.

Auch beim Wohngeld (housing benefit) wird es Änderungen geben: Weil es proportional zum Einkommen verringert wird, stellt es für die Regierung in seiner jetzigen Form einen Grund dar, nicht zu arbeiten und verletzt damit das Welfare-to-work-Prinzip. Und erst vor zwei Wochen veröffentlichte eine Kommission ihren Bericht über die Lage von Heimbewohnern. Darin werden Vorschläge erarbeitet, wie in Zukunft verhindert werden kann, daß alte Menschen ihre Häuser verkaufen müssen, um für ihre Pflegekosten zu bezahlen. Daß die Regierung die Empfehlungen übernimmt, ist unwahrscheinlich: Soll doch der Staat für einen Großteil der Kosten aufkommen.

Sozialreformen wurden schon für viele Politiker zum Fallstrick. Jüngstes Beispiel: Sozialministerin Harriet Harman und ihr Staatsekretär Frank Field, ein vermeintlicher New-Labour-Hardliner, der von Blair auf seinen Posten gesetzt wurde, um "das Undenkbare zu denken". Fields plante tiefe Einschnitte in das soziale Netz und veröffentlicht im März 1998 ein Strategiepapier. Darin wurde erstmals seine Idee einer weitgehenden Privatisierung des Rentensystems präsentiert. Sein Rücktritt Ende Juli wurde offiziell mit der Begründung verkauft, daß ihm die Beförderung zum Minister verweigert worden war.

Aber Harman und Field dürften eher Opfer des partei-internen Flügelkampfes zwischen Old and New Labour gewesen sein; in seiner ersten großen Kabinettsumstellung im August besetzte der Ministerpräsident kurzerhand alle Regierungsposten mit "Blairisten" und entschied damit den Machtkampf vorläufig für sich.

Der Guardian spekulierte, für Blair habe es allerhöchste Priorität, sowohl nach rechts wie nach links sein "smiling face" zu zeigen. Die Sozialreform habe keine wirkliche Bedeutung für ihn, es komme ihm nur darauf an, sich nicht zwischen einem rechtsliberalen und einem traditionellen sozialdemokratischen Kurs entscheiden zu müssen. Field wollte dieses Spiel nicht mehr mitmachen und mußte gehen. Dennoch war er seit seinem Rücktritt häufiger in den Schlagzeilen als der neue Sozialminister Alistair Darling; Field läßt keine Gelegenheit aus, seinen Nachfolger im Parlament anzugreifen.

Die Tories haben ein großes Problem: Blairs Regierung setzt im Grunde nur den konservativen Kurs fort, versetzt mit ein paar humanen Zügen. Die Rede vom "Sozialmißbrauch" und einer "Kultur der Abhängigkeit" stammt direkt aus ihrem Arsenal - was gibt es da noch zu kritisieren? Und so haben sich die Mannen um Oppositionsführer William Hague bisher auf alte Phrasen beschränkt: Die Reform würde nicht genügend einsparen; die Sozialleistungen seien immer noch zu groß und würden die Empfänger weiterhin vom Arbeiten abhalten.

Doch die britischen Sozialreformen gehen der Weg vieler politischer Projekte: Groß angekündigt, zerfallen sie rasch in loses Stückwerk. Von einer grundlegend Reform kann keine Rede sein. Wie das "New Deal"-Programm illustriert, hängt der Erfolg direkt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab; die nächste Rezession wird den wenigen sozialen Verbesserungen wieder den Boden entziehen.