Europas Wertegemeinschaft gegen die USA

Wir sind gut

Welcher Staat ist wohl gemeint, wenn die Süddeutsche Zeitung von "einem Land voller Ungerechtigkeit und Brutalität" schreibt? Afghanistan? Nordkorea? Irak? Keineswegs. Es ist der große Bruder der vergangenen Jahrzehnte, die Vereinigten Staaten. Denn die europäischen Staaten fühlen sich von ihrem transatlantischen Partner USA ungerecht behandelt.

Erst gab das US-amerikanische Außenministerium einen Menschenrechtsbericht heraus. Und sogar einen "mit enzyklopädischem Anspruch" (Süddeutsche Zeitung). Das war ein Fehler, denn auch Deutschland kam darin vor. Kritisiert wurde in dem Bericht beispielsweise die Abschiebung des 14jährigen Mehmet in die Türkei. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) reagierte pikiert. "Bekanntlich", so Beckstein, würde "die extreme Härte des dortigen Gesetzes" auch in den USA ausländische Straftäter treffen - bis hin zur Todesstrafe.

Schön, daß sich bayerische Law and Order-Hardliner gegen die Todesstrafe aussprechen - wenn auch nur gegen die in anderen Ländern. Denn war nicht im Krisenstab im deutschen Herbst munter über die extra-legale Hinrichtung von Gefangenen der RAF diskutiert worden? Das ist zwar eine Weile her, zeigt aber, wie dünn die zivile Tünche in Deutschland war und - im Falle der Anfechtung des Bestehenden - immer noch ist.

Becksteins Äußerungen waren erst der Anfang. Mit der Hinrichtung der beiden Brüder Karl und Walter La Grand in den USA brach die Empörung in Deutschland erst richtig los. Die doppelte Staatsbürgerschaft ohne antiquiertes Blutsrecht beim bösen großen Bruder machte es möglich, denn sonst hätten die als Kinder emigrierten La Grands sicher keine deutschen, sondern nur US-Papiere mit in den Tod genommen. Die Interventionsversuche der deutschen Bundesregierung und der Justizministerin Herta Däubler-Gmelin blieben erfolglos, und unter dem Eindruck der grausamen Beförderung in den Tod rutschte ihr der Ausdruck "Barbarei" heraus.

Zwar ist es, wie die Neue Zürcher Zeitung richtig bemerkte, nichts Neues, "dass Appelle des Internationalen Gerichtshofs in Amerika nicht als bindend angesehen und gewöhnlich ignoriert werden". Deswegen bezeichnete man sie aber noch lange nicht als "selbstgerechte Supermacht", wie der Spiegel es nun tut. Aber in der Europäischen Union und dem selbstbewußten Deutschland hat man eine Entdeckung gemacht: die "Wertegemeinschaft in Europa" (Zeit).

Und die wird immer dann beschworen, wenn es gegen die USA geht: Wenn dort deutsche Bankräuber hingerichtet werden wie in Brandenburg Asylbewerber von Deutschen, wenn das Pentagon am Persischen Golf seine Interessen auch mit Waffengewalt durchsetzt. Oder, wenn einem US-Kampfpiloten bescheinigt wird, er habe eigentlich gar nichts falsch gemacht, als er mit einem Jet im italienischen Cavalese eine Seilbahn kappte und 20 Menschen in den Tod riß. Daraufhin ist es nicht nur "der antiamerikanische Teil der Linken, der sich wieder erhebt", bemerkte Eugenio Scalfari am Sonntag in der Tageszeitung Repubblica erfreut, "sondern die Empörung eines ganzen Landes, das die Respektierung des Rechts und der nationalen Würde einfordert".

Kein Staat der Welt, der die in Klassen geteilte Gesellschaft verwaltet, hält die Menschenrechte ein. Sie sind deshalb ein Allzweckmittel, gegen mißliebige Staaten vorzugehen. Daß sie nun wechselseitig zwischen EU und USA gegeneinander in Anschlag gebracht werden und nicht mehr nur gegen "Schurkenstaaten", das ist das Neue. Und das wiederum ist lediglich Ausdruck der gewandelten Kräfteverhältnisse - zwischen einem europäischen Block, der als eigenständige imperialistische Macht gegen die ehemalige Führungsmacht auftreten will.

Daß die Interpretation der Menschenrechte interessegeleitet ist, brachte die NZZ zum Ausdruck und bezeichnete die europäische Empörung "als Vorwand, um den Amerikanern eins auszuwischen und sie daran zu erinnern, dass auch sie gut daran täten, sich dem Völkerrecht, wie es die Europäer verstehen, unterzuordnen".