Das Prinzip Vollräumen

De mortuis nihil nisi bene. Die Arbeiten von Martin Kippenberger in einer Werkschau

Zwei Probleme stellten sich für die Organisatoren der ersten großen posthumen Martin Kippenberger-Ausstellung. Das erste: "Retrospektive" kann man die Schau nicht nennen, denn diese biedere Kunstbetriebs-Vokabel hätte sich Kippenberger, der vor fast genau zwei Jahren gestorben ist, bestimmt verbeten. Das zweite: Wie findet man angesichts des beispiellosen Outputs dieses mindestens in den Genres Malerei, Zeichnung, Fotografie, Skulptur, Literatur und Malerei umtriebigen Hansdampfs bloß einen repräsentativen Titel? Zumal er ja auch noch die Ausführung zahlreicher Ideen an Assistenten und Schüler delegierte.

Die Grübelei über einen allgemeingültigen oder plakativen Titel brachte verständlicherweise nichts ein, und deshalb heißt die Ausstellung jetzt "Selbstbildnisse. The Happy End of Franz Kafkas 'Amerika'.Sozialkistentransport, Laternen etc."

Kurz nach Kippenbergers Tod hat der Wiener Künstler Heimo Zobernig in der Zeitschrift Texte zur Kunst (Nummer 26) Kippenbergers Arbeitsweise analysiert: "Für seine inflationäre Produktion gab es meiner Meinung nach einen ganz persönlichen Grund, nämlich das Zuviel an Talent. Wenn man Talent und Phantasie als Handicap für gute Kunst ansieht, dann hat Martin einen Weg gefunden, durch Überproduktion zu korrigieren. Ich habe das so erlebt, daß das Vollräumen von Ausstellungen den Rezipienten überfordertÖ" - mit dem Ergebnis, daß dem Besucher entweder alles oder nichts gefalle.

Das Prinzip "Vollräumen" hat auch Zdenek Felix, der Direktor der Hamburger Deichtorhallen, beherzigt. Der langjährige Kippenberger-Kenner, der schon 1984 in Essen "Wahrheit ist Arbeit" gezeigt hatte, die legendäre Gemeinschaftsausstellung mit den Spezis Albert Oehlen und Werner Büttner, hat eine gewaltige, 359 Arbeiten umfassende Schau zusammengestellt. Das erschlägt einen, und es tut sehr gut.

Der erste Höhepunkt ist die zwischen 1989 und 1991 entstandene Werkgruppe "Heavy Burschi". Dafür hatte Kippenberger seinen damaligen Assistenten Merlin Carpenter beauftragt, nach collagierten Vorlagen 20 großformatige Bilder zu malen, zumeist mit dem Konterfei des Meisters. Als sie fertig waren, wurden sie zuerst fotografiert und dann zerstört, um die Fotos schließlich gemeinsam mit den Trümmern auszustellen. Diese Fotografien - mit Titeln wie "Gute Zeiten sind nicht gut" und "Jeans against fashism" - lösen eine Reaktion aus, wie man sie von rhythmusbetonter Musik kennt. Sie pulsieren, sie kicken geradezu.

Die Hamburger Ausstellung deckt alle wichtigen Phasen von Kippenbergers Arbeit ab, zumindest, was er im Rahmen der sogenannten Bildenden Künste schuf. Ausreichend Raum bekommen auch die Frühwerke, denen Kippenberger das langlebige Image des Spaßmachers zu verdanken hatte. Mit Werken wie "Neid und Gier das ist mein Bier", oder "Witzfotografie ist der Schlumpf unter den Gehetzten" erwies er sich als mal radikaler, mal wohl bewußt platter Humorist oder Klamaukproduzent (von Kippenberger stammt übrigens auch der mittlerweile unter Prolls beliebte Spruch "Geld spielt keine Rolex"). Wie die Idee eines Punk-Fanzines wirkt hingegen "Der Bürgermeister hatte viel Pech", eine abfotografierte Bild-Meldung, die nichts weiter besagt, als daß der Frau des damaligen Hamburger Stadtchefs Hans-Ulrich Klose in Jugoslawien die Urlaubsfotos mißlangen.

Im Zentrum der Schau steht die monumentale Rauminstallation "The Happy End of Franz Kafkas 'Amerika'", Kippenbergers Fortschreibung des berühmten Romans. Bei ihm bekommt die Kafka-Figur Karl Roßmann einen Job; um diese Idee umzusetzen, hatte der Künstler verschiedene Autoren, unter anderem Diedrich Diederichsen und Roberto Ohrt, beauftragt, Einstellungsgespräche zu entwickeln, die allesamt gut ausgehen.

"The Happy EndÖ.", 1994 entstanden, ist absurdes Theater: Zwei Tribünenreihen, 14 Meter breit und vier Sitzreihen hoch, umrahmen ein grünes Filzviereck, das einem Tischfußballfeld nachempfunden ist. Auf diesem Sportplatz ist das Ambiente von 49 Bewerbungsgesprächssituationen nachgestellt - mit Stühlen verschiedenen Stils: Bauhaus-Möbel, Hocker, Hochsitze. Darunter sind Stücke vieler Kollegen, die Kippenberger grundsätzlich gern davon überzeugte, ihm ihre Arbeiten zu überlassen, ja, er gierte, wie sein Freund Albert Oehlen einmal in einem Interview sagte, geradezu danach, diese in seine Werke zu inkorporieren. Bei Kippenberger wird das Einstellungsgespräch zum Wettkampfspektakel für die Massen, und das hat durchaus etwas Kafkaeskes.

Mit diesem Spätwerk versuchte Kippenberger, Kategorisierungen wie "Provokateur" oder "Tabubrecher" zu entgehen, vor denen er sich vor allem in den achtziger Jahren nicht hatte retten können. Obwohl das ja noch nette Beleidigungen waren, verglichen mit dem, was zum Beispiel das Wolkenkratzer Art Journal 1989 schrieb. Unter der Überschrift "Der Künstler als exemplarischer Alkoholiker" bepöbelte das Blatt ihn als "deutschen Spießer", der "wie alle Zyniker letztlich ein Feigling" sei. "Er war kein guter Mensch", rief ihm die taz hinterher.

Natürlich hat Kippenberger seine Gegner auch zu solchen Einschätzungen animiert. Ständig hat er sich inszeniert in seinen Werken und in der Öffentlichkeit. Autobiographische Bezüge lassen sich wohl in der Arbeit jedes Künstlers finden, bei ihm indes sind sie so präsent, daß man sich die mühevolle Suche sparen kann. In diesem Zusammenhang besonders wichtig sind die auf dem Briefpapier eines Hotels angefertigten Zeichnungen. Damit begann er 1987, und am Ende wuchs die Sammlung auf fast 200 Arbeiten an. Diese Werkgruppe, eine Mischung aus Tagebuch und Autobiographie, ist im letzten Teil der Ausstellung zu sehen. Was Kippenberger gerade in den letzten Jahren seines 44jährigen Lebens praktiziert hat, faßt der Katalogautor Peter Pakesch am besten zusammen. Der Künstler, so der Direktor der Kunsthalle Basel, habe sich "in die Isolation der totalen Öffentlichkeit begeben".

Martin Kippenberger: "Selbstbildnisse. The Happy End of Franz Kafkas 'Amerika'. Sozialkistentransport, Laternen etc.". Deichtorhallen Hamburg. Bis 25. April