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Mit ihrem neuen Album "13" zeigen Blur, wo die Reise hingeht: "Space is the Place"

Mit selbstgestrickten Stulpen und Karottenjeans kündigte sich das New Age an. Man trug Wollpullover, trank Früchtetee und hörte bei glimmenden Räucherstäbchen traurige Musik. John Lennon wurde erschossen und Ronald Reagan Präsident der USA. Mit dem Nato- Doppelbeschluß wurden in Europa Pershing II-Raketen stationiert, und an Häuserwänden war immer häufiger zu lesen: "Petting statt Pershing".

Die Apokalypse stand unmittelbar bevor. Zur gleichen Zeit traten sich im Schulchor der Stanway Comprehensive School in Colchester/Essex zwei Jungen auf die Füße, wenn einer von beiden den falschen Ton erwischte. Der eine heißt Damon Albarn, der andere Graham Coxon. Erst zehn Jahre später sollten sie den richtigen Ton treffen und mit ihrer Band Blur die britischen Hitparaden stürmen. An das Ende dachte niemand mehr, nur noch daran, wie es weitergehen würde.

Es ging steil bergauf. Schon nach dem ersten Album, "Leisure", kürte das britische Musikmagazin Select Blur zur besten britischen Band seit The Smiths. Mit "Modern Life Is Rubbish" und "Parklife" gelang es, einen Sound zu etablieren: Brit-Pop. Blur erhielt vier Brit-Awards. Und Damon Albarn ließ sich auf dem Höhepunkt seines Erfolges zu dem Versprechen hinreißen: "Ich hab 1991 gesagt, unser drittes Album würde uns zur wichtigsten Band des Landes machen, und ich sage jetzt, daß wir 1999 die wichtigste Band auf der ganzen Welt sein werden. Und auf dem Mond. Vielleicht sogar auf dem Mars."

Dummerweise kamen ihnen dabei Oasis in die Quere. Blur verlor die von der Yellow Press angezettelte große Schlacht. "The Great Escape" verkaufte sich gut, aber den Jungs war es peinlich. Sie wandten sich ab von Cool Britain und machten fortan amerikanische Bands wie Sebadoh oder Pavement nach, die ein bißchen auf ihren Gitarren schrammelten und Unverständliches ins Mikrofon nuschelten. Es hieß, Blur machten jetzt Punk statt Pop.

1999 sind Blur weder auf dem Mars noch auf dem Mond, nicht einmal auf der Welt die wichtigste Band. Aber sie sind auf dem besten Weg dorthin. "13", so der düstere Titel des neuen Albums, ist spirituell, schräg und abgedreht. Die Songs sind angeblich nicht mehr radiotauglich, sind nicht zum Mitsingen geeignet und widersprechen den Gesetzen von Pop und Kommerz. Blur wollen sich distanzieren von einer Musik, die von Politik und Wirtschaft instrumentalisiert worden ist.

Trotzdem wird die erste Single-Auskopplung "Tender", ein siebenminütiger Song, in den britischen Radiostationen rauf und runter gespielt. Dabei klingt "Tender" wie Boy George auf einem verspäteten Live-Aid-Konzert. "Hare Krishna" und "Give Peace A Chance". Oder: "Tender is the touch of someone that you love too much / Tender is my heart/ for screwing up my life / Lord I need to find someone who can heal my mind." Im Hintergrund schunkelt ein Gospelchor und intoniert: "Come on, come, come on, get through it." Dann macht Damon Albarn den Elvis, mit ganz tiefer Stimme: "Love's the greatest thing".

Blur geben vor, sich von der Schlacht mit Oasis abgewandt zu haben. Auch Albarns Trennung von seiner langjährigen Freundin Justine Frischmann, Sängerin von Elastica, scheint mit "13" verarbeitet. Albarn sagt, er sei an einem Punkt angelangt, wo er "in allem das Gute sehe". Er singt Liebeslieder gegen den Liebeskummer. Und manchmal, wenn es nicht anders geht, muß es eben krachen. Pershing statt Petting. Da sind sich Albarn und Graham Coxon einig. Der eine habe immer ein "unhörbares Album" machen wollen, der andere Musik, die niemand versteht.

Gemeinsam beschwören sie ein neues Zeitalter britischer Popmusik herauf und legen in "Bugman", dem zweiten Stück auf "13", die Richtung fest: "Space is the Place". Sie flüchten in sphärische Klangwelten, angereichert mit Slide-Gitarren und melancholischen Melodien. "Wenn dein Glaube an etwas zutiefst erschüttert ist, dann bleibt dir eben nur noch (Ö) Glaube", sagt Albarn dem Rolling Stone. Kaum 30, markiert er den verunsicherten, introvertierten Frontman. Nur auf der Bühne kann er seine Gefühle rauslassen, und um seiner dauerhaften Jugend Glaubwürdigkeit zu verleihen, imitiert er Mark E. Smith.

Das ist natürlich Teil der Werbestrategie. Schließlich kann man selbst Teenagern nicht immer das gleiche verkaufen, man muß Format und Verpackung verändern und eine Geschichte drumherum basteln. Sie machen einfach Rockmusik, sagen sie, und haben sich nicht neu erfunden, sondern da weitergemacht, wo sie vor zwei Jahren mit "Blur" aufgehört haben. Dann kamen "Strange News From Another Star", jetzt sind sie selbst ein bißchen entrückt.

Äußerlich haben sie sich allerdings kaum verändert. Albarn trägt immer noch zu enge Polohemden und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln, und Coxon weite Hosen und Hornbrille. Dabei klingen manche Stücke auf "13" verdächtig nach dem frühen David Bowie, als er noch Ziggy Stardust war und Glitzerklamotten trug. Daß Blur nicht ganz abheben, ist Gitarrist Coxon zu verdanken. "The Sky Is Too High" heißt sein Soloalbum und markiert gleichzeitig den Rahmen, den er sich gesteckt hat. Auch in der Band ist er tonangebend, bei "Coffee & TV", einem der besten Songs, übernimmt er selbst den Gesangspart.

Albarn und Coxon wechseln sich jetzt ab, treten sich nicht mehr gegenseitig auf die Füße und scheinen besser aufeinander eingespielt denn je. Mit "13" haben sich Blur freigeschwommen. Keine Drei-Minuten-Pop-Songs aus der Retorte mehr, keine punkigen Coverversionen. Mal spacig-abgedreht, mal ruhig. "Let it flow", singt Albarn. Sie gehen jetzt eigene Wege. Albarn spielt nach dem letztjährigen Schauspiel-Debüt in Antonia Birds "Face" schon wieder in einem Film mit und schreibt zusammen mit Paul Nyman ("The Piano") den Soundtrack, Bassist Alex James und Schlagzeuger Dave Rowntree haben einen VHS-Kurs Computeranimation belegt und unterstützen die unbemannte britische Marsexpedition im Jahr 2003.

Ob Damon Albarn mitziehen wird, ist noch nicht ganz klar: "Ich will ein möglichst ehrlicher Mensch sein. In der Zeitspanne, die mir auf diesem Planeten zugewiesen ist. Ich will als Erde zur Erde zurückkehren - nicht als ein Stück Plutonium." Könnte aber sein, daß sich bis dahin sein Versprechen erfüllt haben wird: die wichtigste Band auf dem Mars zu sein. Auf jeden Fall wären sie die einzige, wenn Oasis nicht wieder dazwischenfunkt.

Blur: "13", Food/EMI