Schily stellt die Flüchtlingsfrage

Der "größte humanitäre Hilfseinsatz" in der Geschichte der Bundesrepublik ist angelaufen. Aber mehr als 10 000 Kosovo-Albaner kommen Rot-Grün nicht ins Land

Die Quelle ist immer dieselbe. Und sitzt im Brüsseler Hauptquartier eines bekannten Militärbündnisses. Nato-Sprecher Jamie Shea lieferte der Berliner Zeitung die dürftigen Belege für ihre Schlagzeile: "500 000 Albaner auf der Flucht" titelte das Blatt am 29. März unter Berufung auf den Sprecher des Nordatlantikpakts.

Im dpa-Bericht auf der zweiten Seite derselben Ausgabe waren "nach Schätzungen der Nato" nur noch "50 000 Menschen im Kosovo von Serben vertrieben worden", und die albanische Regierung wird dort mit der Mitteilung zitiert, daß bis dahin lediglich 20 000 Flüchtlinge ins Land gekommen seien.

Woher Shea seine Zahlen hatte, schrieb die Zeitung nicht; weshalb die Nato "Flüchtlingsströme", "Flüchtlingsmassen" und "Flüchtlingsfluten" zur Legitimation ihrer Angriffe braucht, hingegen schon: "Wir stehen am Rande einer humanitären Katastrophe, wie wir sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa nicht mehr gesehen haben", rechtfertigte Shea die fortgesetzte Bombardierung Jugoslawiens.

Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sekundierte kurz darauf: Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic begehe im Kosovo einen "Völkermord". Die Vertreibungsaktionen der Serben seien von langer Hand geplant, systematisch würden Dörfer von Soldaten beschossen und umstellt - um danach die Einwohner zu "selektionieren" und die Männer zu "internieren". Auch Hinweise auf die Errichtung von Konzentrationslagern gebe es.

Bloß fehlten, eine Woche, nachdem Scharping Hinweise auf KZs im Kosovo erstmals lancierte, noch immer die Beweise. Deshalb, so schreibt der Spiegel in seiner neuesten Ausgabe, habe der Verteidigungsminister bereits Anfang letzter Woche die dringende Beschaffung solcher Belege angeordnet. Die militärische Offensive der Nato-Staaten für die Menschenrechte kommt eben nicht ohne Medienoffensive aus: Seit vergangenem Mittwoch fliegen Bundeswehr-Flieger über die südserbische Provinz, um die Scharping-Behauptungen durch die passenden Bilder zu unterstützen. Bislang vergebens. Zwar machte ein Aufklärungsflieger Aufnahmen des von Scharping als KZ bezeichneten Stadions in der Provinz-Hauptstadt Pristina - doch es war leer.

Nato-Offizielle und Regierungsstellen der Bündnisstaaten füttern seit Beginn der Militärschläge auf ihren Briefings und Pressekonferenzen die Medienvertreter mit neuen, durch nichts außer ihrer eigenen Strategie belegte Flüchtlingszahlen. Aber ohne "ethnische Säuberungen", Massaker und Massenvertreibungen kein "gerechter Krieg", ohne "Flüchtlingsströme" keine humanitäre Rechtfertigung für die Verschärfung der Bombardements - kein "Krieg gegen das Morden", wie der Spiegel die Angriffe gegen Jugoslawien bezeichnete.

Am Ostersonntag vermeldete die Nato in Brüssel dann schon eine Million Vertriebene, die die Flucht durch, aus oder um das Kosovo herum angetreten hätten - und die angeschlossenen Rundfunkanstalten meldeten mit. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) war zeitgleich mit seinen Zählungen gerade mal bei 250 000 Flüchtlingen angelangt.

Der deutsche Kanzler aber wollte da schon nicht mehr von Flüchtlingen reden. Kein "Flüchtlingselend", sondern "planmäßige Deportationen" gebe es im Kosovo, wußte Gerhard Schröder am Samstag auf der Bundespressekonferenz. Und an seiner Seite Joseph Fischer: "Es handelt sich um die Vertreibung eines ganzen Volkes" - herumkutschiert in 13 Zügen, die zwischen dem Westteil des Kosovo und Albanien hin- und herfuhren, wie der Außenminister berichtete. Mit vorgehaltener Waffe würden die Menschen in die Flucht getrieben, Kindern das Spielzeug weggenommen, bevor sie von Serben in die Waggons "gepfercht" werden - "ein unglaubliches Kriegsverbrechen".

Verteidigungsminister Scharping hatte schon vorher den "größten humanitären Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr" eingeläutet. Seit Karfreitag fliegen täglich sechs Transall-Maschinen und eine Boeing Richtung Tirana und Skopje. Medizinische Ausrüstung, Lebensmittel, Decken und eine Wasseraufbereitungsanlage sollen in die Krisenregion gebracht werden - Deutschlands "angemessener" Beitrag zur Linderung der Flüchtlingskatastrophe in der Region.

Lieber dort als hier, so die Devise der Bundesregierung. Denn wo die Hilfsbereitschaft Deutschlands endet, erklärten die Sprecher der beiden Ministerien über Ostern: Da die Bundeswehrmaschinen nicht mit Sitzplätzen ausgestattet seien, könnten mit den Fliegern auch keine Flüchtlinge evakuiert werden. Andere Vorschläge, um einen Teil der Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen, gebe es nicht.

Statt sich auf belegbare Fälle von Vertreibung zu beschränken, bediente der Außenamts-Sprecher Martin Erdmann die Deutschen mit rot-grüner Weltuntergangs-Rhetorik: "Diese perverse, menschenverachte Vertreibungspolitik läßt sich nicht mehr in Worte fassen - sie hat apokalyptische Ausmaße angenommen." Ziel Belgrads, so Erdmann, sei es, das "labile ethnische Gleichgewicht" in den Nachbarstaaten zu zerstören und so die gesamte Region zu destabilisieren. Milosevic habe "der europäischen Zivilisation den Krieg erklärt".

Da das deutsche Zivilisierungsmodell auch unter dem SPD-Innenminister Otto Schily darauf beruht, die "Flüchtlingsherde" bereits in den Herkunftsregionen "einzudämmen", schaltete sich der oberste Hüter deutscher Grenzen am Wochenende im Focus ebenfalls in die Flüchtlingsdebatte ein - und nahm sich die von seinem Vorgänger Manfred Kanther (CDU) während des Bosnien-Krieges vorgegebenen "Grenzen der deutschen Belastbarkeit" zum Vorbild. "Die Bundesregierung sagt ihren Partnern aber in aller Deutlichkeit: Das ist nicht nach Belieben wiederholbar - und schon gar nicht ohne faire Lastenteilung in der EU."

Glaubt man der Vertriebenen-Propaganda von Nato und deutschen Ministern, müßte die Zahl der Kosovo-Flüchtlinge an die 1,3 Millionen Bosnierinnen und Bosnier, die zwischen 1992 und 1995 in die nord- und west-europäischen Staaten flohen, zumindest herankommen. Doch was die Europäische Union nach dem Bonner Balkan-Gipfel beschloß - "eine substantielle Übernahme in sechsstelliger Höhe" - interpretierte Außenamtssprecher Erdmann sogleich als die Aufnahme von nicht mehr als 100 000 Vertriebenen in den Staaten der EU.

Das entsprach der Zielvorgabe der deutschen Ratspräsidentschaft für die von Außenminister Fischer Ende letzter Woche eilig nach Bonn einberufene Balkan-Konferenz. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte die Konferenz lakonisch: "Das aussenpolitische Selbstbewusstsein Bonns und die Bereitschaft, sich auch auf dem für Deutschland historisch belasteten Balkan zu engagieren, sind unverkennbar gewachsen."

Was sich nicht unbedingt militärisch äußern muß: Nicht erst seit Unterzeichnung des Dayton-Vertrags 1995 erreichte Deutschland innerhalb der Schengen-Staaten restriktivere Gesetze und eine verschärfte Sicherung vor allem der deutschen Außengrenze. Nutzte schon Kanther die finanzielle Belastung durch die 345 000 Bosnien-Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik Zuflucht gesucht hatten, um innerhalb der EU eine "faire Lastenteilung" - die Angleichung des europäischen Asylrechts an die strengen deutschen Standards - zu erreichen, macht Schily nun deutlich, was das für künftige Konfliktfälle heißt.

Gemeinsam mit seinem österreichischen Amtskollegen Karl Schlögl verkündete der Innenminister am Samstag die großzügige Aufnahme von 15 000 Flüchtlingen in das humanitäre deutsch-österreichische Staatenbündnis, von denen Bonn 10 000 aufnehmen will. Kein schlechter Schnitt, wenn man die am Sonntag mittag vom UNHCR geschätzten 360 000 Kosovo-Albaner in Montenegro, Mazedonien und Albanien zur Grundlage nimmt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Nato-Sprecher in Brüssel aber die Millionen-Marke schon überschritten. 10 000 von einer Million? Deutschlands "Flüchtlingsfrage" dürfte damit geklärt sein.