»Und sie antworten alle«

Seit drei Jahren kämpft Hans Winter um das Vermögen, das seiner Familie von den Nazis geraubt wurde. Eine Reportage aus Frankfurt am Main

"Ich habe mein ganzes Leben nur kämpfen müssen." Hans Winter, 68, legt seine breite Hand auf einen Stapel Dokumente, die er in einer braunen Ledermappe aufbewahrt: "Das sind drei Jahre Kampf." Ein einsamer, vielleicht aussichtsloser Kampf: Doch zumindest einen Teil des Vermögens, das seinen jüdischen Großeltern und seinem Vater während der Nazizeit geraubt wurde, will Hans Winter vor seinem Lebensende zurückbekommen.

Immer noch packt ihn die Erregung, wenn er am Eßtisch seiner kleinen Wohnung Schreiben um Schreiben aus der Ledermappe zieht und dabei seine Geschichte erzählt. "Und sie antworten alle", sagt er. "Hier, das hat von Plottnitz persönlich unterschrieben." Der hessische Justizminister weiß, "daß Ihnen und Ihren Angehörigen unter der Herrschaft der Nationalsozialisten unermeßliches Leid widerfahren ist, das mit Geld allein sicherlich niemals wiedergutzumachen ist. Daß Sie die Erlebnisse in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 nie vergessen können, verstehe ich nur zu gut."

Damals war Hans Winter acht Jahre alt und ging im Frankfurter Philanthropin zur Schule. Seine Klasse war die letzte, die dort eingeschult worden war. Warum, das begriff Winter erst in jener Novembernacht 1938, als die Synagoge brannte. Er erinnert sich wieder an die Szene vor der Konditorei, wo er mit seinen Eltern immer eingekauft hat und sieht, wie die Menschen die Zuckersäcke umschmeißen, die Torten, die Kuchen auf die Straße werfen: "Und der Besitzer mußte immer rufen: 'Ich bin ein Jude, ich bin ein Schwein.'"

Zu Hause, in der Wohnung der Eltern in der Berger Straße 24, klingelt es tags darauf an der Türe, und sein Vater Emil wird abgeholt. Von der Festhalle geht der erste Sammeltransport ins KZ Buchenwald.

Emil Winter hat Glück. Seiner Frau gelingt es, ihn mit Hilfe eines noch einflußreichen Verbandes der Teilnehmer des Ersten Weltkrieges freizubekommen. Berufsverbot. Jeglicher Besitz muß angegeben werden. Viel ist nicht übrig. Seine Dekorateurschule in München hatte der Vater schon 1935 für 5 000 Reichsmark verkaufen müssen. Beteiligtes Institut beim Zwangsverkauf: die Deutsche Bank.

"(...) vielen Dank für Ihre Schreiben, in denen Sie sich kritisch mit den Goldtransaktionen der Deutschen Bank im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen und zugleich auf Ihre beengte finanzielle Situation hinweisen. (...) Wir hoffen daher auf Ihr Verständnis, daß wir eine individuelle Unterstützung nicht leisten können."

Wenn Winter solche Zeilen liest, packt ihn die Wut: "Das Grundvermögen der Deutschen Bank, mit dem sie protzt, beruht auf dem Geld von Ermordeten." Auch Winters Großeltern mußten ihren Besitz verkaufen. Winters in den USA lebende Schwester, Inge Doris Moskovitz, beziffert den Wert des Betriebs nach alten Dokumenten auf 150 000 Reichsmark. "Da kam ein Nazi und sagte zu meinem Großvater: 'Du verkaufst an die Deutsche Bank, und ich kaufe das wieder'", sagt Winter aufgeregt. 3 500 bekam der Großvater - statt 150 000 Reichsmark: eines der von der Deutschen Bank nach 1938 überall vorgenommenen "Arisierungsgeschäfte".

Die enteigneten Großeltern werden Ende 1939 nach Theresienstadt deportiert. Die Todesmitteilung kommt 1940. Sogar die "Kosten der Beerdigung" - die Verbrennung im KZ-Krematorium - muß die Familie auf ein Konto der Deutschen Bank überweisen.

Inge Doris Moskovitz schreibt am 28. August 1998 an die Deutsche Bank einen Brief, in dem sie den mit Hilfe der Bank geraubten Besitz auflistet. Winter, der den Brief weiterleitet, erhält die Antwort: "(...) daß die Deutsche Bank die aktuellen Vorwürfe zum Anlaß nimmt, (...) eine externe Kommission namhafter Historiker (...) zu beauftragen. Wir wollen den Ergebnissen dieser Untersuchung (...) nicht vorgreifen (...)"

Im Winter 1942 wird Hans Winters Vater Emil als Zwangsarbeiter der Organisation Todt zugeteilt, muß in Blankenburg im Harz für Siemens und AEG in der V1 (Vergeltungswaffe eins)-Produktion arbeiten. Die Familie flieht aufs Land. Ausgemergelt von KZ-Haft und Zwangsarbeit, kehrt Emil Winter mit dem Fahrrad von Blankenburg nach Erbach zu seiner Familie zurück.

Hans Winter geht 1948, im Jahr der Staatsgründung, nach Israel, dient dort in der Armee. Fünf Jahre später muß er nach Frankfurt zurück, denn sein Vater ist schwerkrank. 1959 stirbt Emil Winter und wird auf dem jüdischen Friedhof begraben. Vier Kinder hat Hans Winter nach dem Krieg großgezogen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Lkw-Fahrer, bis er nach drei Herzinfarkten und wegen Lungen- und Nierenschäden zum schwerbehinderten Rentner wurde.

Sein Antrag auf Entschädigungsrente wegen körperlicher Schäden durch die Verfolgungszeit traf nach dem Stichtag im Jahr 1971 bei der Bundesbehörde ein. Aus dem hessischen Härteausgleichsfonds erhält er heute 739 Mark zusätzlich zur normalen Rente. Zwei Mal 5 000 Mark als Wiedergutmachung für "entgangene Ausbildung" hat Winter außerdem bekommen. Weitere Ansprüche hätte er wohl nie geltend gemacht, wenn er nicht 1996 in amerikanischen Zeitungen vom "Raubgold" der Schweizer Banken gelesen hätte: Er läßt sich die "Schweizer Liste" der Schweizerischen Bankvereinigung zuschicken, in der alle nachrichtenlosen Konten aufgelistet sind.

"Winter-Schmid, Rosa, Stadel". An diesem Namen bleibt er hängen: Seine Großmutter hatte einen Neffen, der in der Schweiz wohnte und eine Rosa Schmid geheiratet hat. An diese Frau, erinnert sich Winter, hatten die Großeltern Geld in die Schweiz transferiert. Die Bank ist schnell gefunden: Es ist die Zürcher Kantonalbank. Winter beantragt, ein Schiedsgericht anzurufen, schaltet das Schweizer Konsulat ein - und erhält am 1. Juli 1998 einen Brief von der Kantonalbank: "(...) haben wir aufgrund weiterer Nachforschungen (...) die Adresse von Frau Rosa Winter-Schmid ausfindig machen können. Frau Winter lebt heute noch und ist somit auch die Inhaberin und Berechtigte des nachrichtenlosen Vermögens. Daher sind keine weiteren Abklärungen mehr erforderlich."

Ein seit Kriegszeiten nicht mehr angerührtes Konto hat plötzlich wieder eine auffindbare Besitzerin - und diese lebt. Am 22. Juli 1998 jedoch schreibt die Zürcher Kantonalbank: "(...) Frau Rosa Winter-Schmid ist gemäß telefonischer Mitteilung ihrer Tochter am 1. Juli 1998 verstorben." Winter wird mißtrauisch: Er fühlt sich betrogen und schreibt böse Briefe an die Bank. Diese teilt einem Schweizer Journalisten mit, die Adresse der Tochter sei an den Schweizer Konsul weitergeleitet worden, doch dieser hat sie nach eigener Auskunft nie erhalten.

Schließlich schreibt die Bank am 18. August: "(...) In der Zwischenzeit hat die Tochter von Frau Winter bei uns vorgesprochen. (...) Dieses Sparbuch wurde seinerzeit bei unserer Bank mit dem Namen 'Rosa Schmid' eröffnet. Die Eheschließung mit Herrn Gustav Winter erfolgte erst im Jahre 1946. Die Unterlagen geben somit klar den Hinweis, daß kein Zusammenhang mit Ihrem gemeldeten Anspruch besteht. Aus diesem Grunde ist die Tochter auch nicht bereit, ihre Adresse bekanntzugeben."

Winter bleibt mißtrauisch: Er versucht, über die Independent Association of Eminent Persons (ICEP), eine von Schweizer Banken und jüdischen Organisationen gegründete Kommission, die nachrichtenlose Konten von Nazi-Opfern untersucht, zu seinem Geld zu kommen. Auch an die Kommission Schweizer Fonds für bedürftige Überlebende der Shoah bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hat sich Hans Winter gewandt - vergebens.

"Vielleicht haben ja andere etwas davon", sagt er plötzlich leise. Er streicht das Tischtuch glatt. Alles ist versucht. Zuletzt hat er gegen die Schweiz Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht und gegen die Deutsche Bank bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt Strafanzeige erstattet. Immer wieder packt ihn die Wut, und er schreibt mit zittriger Handschrift seitenlange bittere Briefe mit Anschuldigungen und Erinnerungen an Banken, Politiker und Zeitungen.

Selbst wenn am Ende gar nichts herauskommen sollte, weil er auf eine juristische Situation trifft, in der ein zweites Mal die Banken gewinnen: Mit seinen eingeschriebenen Briefen wird er sie dennoch nicht in Ruhe lassen. "Und sie antworten alle." Weil sie müssen. Der rosafarbene Rückschein bestätigt Winter jedesmal, daß der Brief sie erreicht hat. "Ich mußte immer kämpfen." Er wird weiterkämpfen - sein Leben lang. Und die braune Ledermappe kann die sorgfältig zusammengelegten Schreiben und Rückscheine kaum noch fassen.