Demokratische Inquisition

In brasilianischen Gefängnissen ist Folter an der Tagesordnung

"Alle Beamten sind korrupt, aber nicht alle faschistisch", sagt Pfarrer Günther Zgubic, der seit mehreren Jahren Gefangene im Polizeigefängnis Carandiru betreut, und spielt damit auf die alltäglichen Folterungen und ein ausgefeiltes Günstlingssystem an. Aus seinen Unterlagen geht hervor, daß in Carandiru zwischen September 1997 und Januar 1998 über 1 200 Gefangene gefoltert wurden.

"Zwei Gefangene sind an den Folterungen gestorben, und", so Pfarrer Zgubic weiter, "bis heute ist die Untersuchung dieser Fälle nicht abgeschlossen."

Auch die nationale Koordinierungsstelle für Gefängnisfragen, die von der Katholischen Bischofskonferenz Brasiliens organisiert wird, stellt in ihrem Lagebericht für das Jahr 1998 fest: "Folter als übliches Mittel zur Untersuchung von Straftaten und zur Befragung vermeintlich Verdächtiger setzt sich in allen brasilianischen Gefängnissen und Polizeidistrikten unvermindert fort. Die für die Kontrolle der Gefängnisse zuständigen Stellen", so heißt es weiter, "wollen oder können ihre Untergebenen nicht kontrollieren."

Von einzelnen "schwarzen Schafen" könne keine Rede sein. Wo permanente Menschenrechtsverletzungen angeprangert und aufgedeckt werden könnten, würden Gefangene in andere Gefängnisse verlegt, in denen die Folterungen dann fortgesetzt werden. Zu den für Folter bekannten Gefängnissen gehört auch Carandiru in S‹o Paulo.

Etwa 450 Häftlinge sind in dem rund hundert Jahre alten Bau nahe der gleichnamigen Metrostation im Norden S‹o Paulos untergebracht. Carandiru ist für 160 Untersuchungsgefangene ausgerichtet und liegt in Sichtweite zum Staatsgefängnis Casa da Detenc‹o mit mehreren Tausend Inhaftierten.

Im Oktober 1992 schlug die Militärpolizei von S‹o Paulos einen Gefängnisaufstand blutig nieder und erschoß - so die offiziellen Zahlen - 111 Aufständische. Menschenrechtsorganisationen und überlebende Gefangene dagegen sprachen von deutlich mehr Toten und gezielten Exekutionen; bei vielen Opfern wurden anschließend Schußwunden im Nacken und Hinterkopf festgestellt.

Nach dem Massaker wurde zwar eine Untersuchung eingeleitet, die beschuldigten Militärpolizisten hatten allerdings nicht viel zu fürchten. Anklagen wegen Übergriffe und Disziplinarvergehen werden nicht von dem Zivilgericht, sondern von einem internen Tribunal der Militärpolizei geahndet. Und dort gilt das gnadenlose Vorgehen gegen Gefangene und Kriminelle als nicht besonders ungewöhnlich: Mitglieder der an dem Einsatz beteiligten Sondereinheit Rota 66, die bereits während der Militärdiktatur gegründet worden war, rühmten sich, mehr als 60 Personen im Dienst getötet zu haben - ohne daß dies je Konsequenzen nach sich gezogen habe.

Entsprechend ergebnislos verlaufen die Untersuchungen; einige der angeklagten Polizeioffiziere wurden in den folgenden Jahren noch befördert. Bis heute, sieben Jahre nach dem Massaker, ist kein Verantwortlicher verurteilt, hat sich an der Gefängnissituation in Brasilien nichts geändert, sind Folter und Tote an der Tagesordnung.

Insgesamt stehen in Brasilien 60 000 Haftplätze zur Verfügung, in denen 130 000 Gefangene einsitzen, mehr als 275 000 Haftbefehle warten noch auf Vollstreckung. Während die Staatsgefängnisse 0,22 Quadratmeter Raum je Inhaftiertem bieten, steht in den insgesamt 102 Polizeigefängnissen im Bundesstaat S‹o Paulo immerhin ein halber Quadratmeter für jeden Gefangenen zur Verfügung. Nach dem Gesetz müßten die Untersuchungshäftlinge nach zwei Monaten einem Richter vorgeführt oder freigelassen werden. Tatsächlich aber sind einige der Gefangenen zum Teil über zwei Jahre inhaftiert, häufig ohne daß ihnen mitgeteilt wurde, aus welchem Grund sie überhaupt angeklagt sind.

Nur ein kleiner Teil der Polizeigefängnisse verfügt über einen Innenhof, in allen anderen, so auch in Carandiru, gibt es keine Fenster, keine Frischluft, keinen Hofgang und niemals Sonnenlicht für die Gefangenen. In den regulären, etwa sechs mal vier Meter großen und drei Meter hohen Zellen stehen 13 Betten für zwanzig bis vierzig Gefangene zur Verfügung, wobei eines der Betten als Kochstätte dient.

Die Schuhe sind in die Gitter der Tür geklemmt, auf dem Boden drängen sich die Gefangenen. Ein schmaler angrenzender Gang von etwa einem Meter Breite ist mit einem Loch, der Toilette, versehen. Das Leitungswasser, in S‹o Paulo ohnehin nicht zum Trinken geeignete, wird über einen Schlauch durch die Gitter in die Zellen geführt. Entsprechend ist auch der Gesundheitszustand der Gefangenen, die im übrigen nicht mit Namen, sondern lediglich mit Nummern angesprochen werden. Tuberkulose und Lungenentzündungen sind weit verbreitet. Eine medizinische Versorgung existiert so gut wie nicht, es gibt keine Medikamente, nicht einmal Penicillin steht zur Verfügung.

Für Dr. Carlos Wilson, dem für die Polizeigefängnise zuständigen Offizier, eine Situation, die er mit eloquentem Fatalismus meistert: "Auch draußen gibt es kein funktionierendes Gesundheitssystem. Und, unser Gefängnissystem ist nicht auf Integration in die Gesellschaft ausgerichtet. Sie können sich vorstellen", so der verantwortliche Gefängnisleiter weiter, "daß das auch zu Frustrationen unter dem Gefängnispersonal führt." Zu Vorwürfen, es würde gefoltert, will er keine Stellung nehmen.

André Ruiz*, seit fünf Monaten in Untersuchungshaft, wird ein Raubüberfall vorgeworfen. Bei seiner Festnahme erhielt er einen Bauchschuß, die Kugel wurde entfernt, doch seitdem lebt er mit einem künstlichen Darmausgang, ohne daß Aussicht auf eine Operation besteht. Ähnlich erging es Manuel Rodrigues*, auch er ist seit deutlich mehr als zwei Monaten inhaftiert und wurde verletzt eingeliefert. Sein Bein hat sich mittlerweile entzündet, Eiter läuft aus der offenen Wunde. Auch für ihn gibt es keine medizinische Versorgung, und er fürchtet um sein Bein.

"Nicht einmal einen Anwalt habe ich bisher sehen können", sagt er und klagt zudem über die Versorgung mit Lebensmitteln. Nur wer Geld hat, um sich einen Anwalt zu leisten oder um die Gefängniswärter zu bestechen, kann sich Lebensmittel in die Zellen bringen lassen. Da auch in den Frauengefängnissen Männer als Aufsichtspersonal beschäftigt werden, sind sexuelle "Gefälligkeiten" üblich, kommt es zu Vergewaltigungen.

"Entgegen der von der brasilianischen Regierung gemachten Zusagen", so faßt der Bericht Katholische Bischofskonferenz zusammen, "hat es bisher keine sichtbaren Verbesserungen in den Gefängnissen gegeben." Immer noch werde in Brasilien gefoltert, und auch die Gefängnisse seien weiterhin überbelegt, obwohl Jahr für Jahr "viele neue Gefängnisse gebaut werden".

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.