Hausordnung für Europa

Schengen, Eurocops und Kanonenboote - der Amsterdamer Vertrag liefert die Grundlage für eine gemeinsame EU-Innenpolitik

"Ob als Tourist in der Toskana, Austauschschüler in London, Geschäftsmann in Paris oder Rentner in Spanien, schon jeder hat die Vorzüge des EU-Binnenmarktes erlebt, ohne sie freilich der EU zuzuschreiben." In Hochglanz-Broschüren versucht die EU-Kommission derzeit, ihren Bürgern die Vorzüge des Amsterdamer Vertrages zu präsentieren.

Sie hat es dringend nötig. Der Vertrag, der 1997 von den fünfzehn EU-Regierungschefs unterzeichnet wurde, ist die neue Hausordnung in der Europäischen Union. Er tritt am 1. Mai in Kraft - und kaum jemand nimmt davon Kenntnis. Schade eigentlich: Denn als dritte grundlegende EU-Reform verzahnt der Amsterdamer Vertrag die zuvor nationalstaatlich geregelte Außen- und Sicherheitspolitik und organisiert zugleich eine gemeinsame europäische Innenpolitik nach deutschem Vorbild. Die EU soll jetzt nach außen wie nach innen abgesichert werden - nachdem der gemeinsame Binnenmarkt bereits durchgesetzt ist und der Vertrag von Maastricht 1992 den Weg ins Euroland geebnet hat.

Eine "glaubwürdige" Außenpolitik ist jedoch ohne eigene Kanonenboote kaum zu haben. Die einzige Möglichkeit dafür ist die schnelle Integration der Westeuropäischen Union (WEU) in die EU - ganz so, wie es der Amsterdamer Vertrag vorsieht. Die WEU, ein Verteidigungsbündnis, das schon Deutschland 1954 den Schritt zur Wiederbewaffnung ermöglicht hat, soll Kern der neuen kontinentalen Militärmacht und damit potentielles Gegengewicht zur US-kontrollierten Nato werden. Auch Dänemark, Finnland, Schweden, Irland und Österreich, die als einzige EU-Länder Nicht-Mitglieder der WEU sind, werden künftig stärker in das Militärbündnis eingebunden.

Erstmals bekommt Euroland mit dem Amsterdamer Vertrag auch eine Art Mini-Pentagon. Konnte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger noch darüber klagen, er habe vergeblich nach der "Telefonnummer Europas" gesucht, so wird künftig der Generalsekretär des Europäischen Rates an den Hörer gehen. Als Spitzen-Bürokrat koordiniert er in Brüssel die Außen- und Sicherheitspolitik der Union und steht künftig einer "Strategieplanungs- und Frühwarneinheit" vor.

Während an der konkreten Ausgestaltung einer künftigen EU-Militärmacht noch weiter getüftelt wird, ist die juristische und innenpolitische Zusammenarbeit bereits fortgeschritten. Noch bevor die rechtliche Grundlage für ein "europäisches FBI", die umstrittene Europol-Konvention, von den Parlamenten unterschrieben wurde, erhielten die Eurocops in Amsterdam schon operative Rechte. Ab 1. Mai wird Europol unabhängig von nationalen Polizei- und Justizorganen sowie parlamentarischer Kontrollen ermitteln können und hat dazu direkten Zugriff auf alle Polizeidaten in den EU-Ländern.

Ergänzt wird die Euro-Polizei durch das Abkommen von Schengen: Was sich an den deutschen Ostgrenzen bereits bestens bewährt hat, soll nun für die gesamte Union gelten. Die Außengrenzen werden personell und technisch aufgerüstet - gegen Flüchtlinge und vermeintliche Kriminelle. Neue EU-Mitgliedsstaaten müssen den gesamten Schengen-Vertrag übernehmen; der Einfluß auf die Innenpolitik der Beitrittskandidaten wird damit von Polen bis Zypern ausgeweitet.

Eine "Fluchtburg Europa" wird es mit den Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages sicher nicht mehr geben. Für mehr als 130 Staaten wird der Visazwang eingeführt, eine Lastenteilung unter den EU-Staaten institutionalisiert, die für eine gleichmäßige Verteilung von Flüchtlingen und Asylsuchenden und der entstehenden Kosten sorgen soll. Nach dem Modell des Kosovo-Krieges sollen Flüchtlinge nahe am Herkunftsort bleiben, um sie so schnell wie möglich wieder zurückverfrachten zu können. Das Modell des "temporären Schutzes" hat Vorrang.

Ex-Außenminister Klaus Kinkel wies bereits in Amsterdam darauf hin, daß Deutschland alle wesentlichen Elemente seiner Asyl- und Einwanderungspolitik durchsetzen will. Und der Staatssekretär des früheren Innenministers Manfred Kanther, Kurt Schelter, achtete bei den Verhandlungen streng darauf, "daß uns Brüssel nicht gegen unseren Willen das deutsche Asylrecht aus der Hand schlagen kann".

Das ist ihm gelungen. Die Drittstaaten-Regelung, die erstmals im deutschen Asylkompromiß ausgedacht wurde, ist nun Standard der EU-Politik. Wer aus einem EU-Land einreist - oder aus einem Land, das als "sicher" deklariert wurde -, hat keinen Anspruch auf Asyl. Gleiches gilt für Unions-Bürger, die in einem andern EU-Land einen Asylantrag stellen wollen. Eine Forderung, die vor allem Spanien durchgesetzt hat, um das lästige politische Asyl für Eta-Angehörige in Frankreich abzuschaffen - nach Ansicht der Uno ein klarer Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention.

Dabei wird es vermutlich nicht bleiben. Der Amsterdamer Vertrag war sicherlich nicht der "Gipfel der Reförmchen", wie die SZ kommentierte, sondern beinhaltet Entwicklungen, die weit über Kerneuropa hinaus gehen. So werden mit EU-Nachbarstaaten wie der Türkei, den GUS-Ländern und den südlichen Mittelmeerländern bereits Abkommen getroffen, die im Austausch mit einer EU-gefälligen Sicherheits- und Migrationspolitik einen günstigeren Zugang zum Binnenmarkt und finanzielle Hilfe versprechen.