Immun gegen Antisemitismus

Die Schweizer Ständeräte sind sich uneins, ob sie die parlamentarische Immunität eines Kollegen, der zum Juden-Boykott aufruft, aufheben sollen

"Heute appellieren wir an alle Schweizerinnen und Schweizer, sämtliche amerikanischen und jüdischen Waren, Restaurants und Ferienangebote zu boykottieren, bis diese gemeinen und völlig unberechtigten Angriffe und Klagen gegen die Schweiz, Schweizer Firmen und Banken aufhören!" Diesen Aufruf veröffentlichte im Juli vergangenen Jahres der Schweizer Nationalrat Rudolf Keller, Präsident der Schweizer Demokraten (SD), vormals Nationale Aktion (NA).

Kellers Boykott-Aufruf, der an den Nazi-Slogan "Kauft nicht bei Juden" erinnerte, erhielt geteilte Aufnahme. Heftige Ablehnung bei Linken und Liberalen, viele Konservative und Rechte hingegen deuteten Kellers Aufruf zwar als heftige, aber berechtigte Reaktion auf Diskussionen zur Aufklärung der Schweizer Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg.

Insbesondere die antisemitisch inspirierte Schweizer Flüchtlingspolitik, die Raubgoldgeschäfte der Banken und die Nichtzurückerstattung nachrichtenloser Vermögen waren in den vergangenen Jahren verstärkt in die Kritik geraten. Den Schweizer Nationalisten mißfielen dabei besonders die engagierten Bemühungen jüdischer Organisationen aus den USA. Und auch der New Yorker US-Senator Joseph D'Amato wurde immer wieder angegangen.

Der latente und offene Antisemitismus in der Schweiz nahm in der Folge zu. Zu einem sprunghaften Anstieg kam es jedoch erst nach einer Äußerung des inzwischen verstorbenen Bundesrats Jean-Pascal Delamuraz (FDP). Dieser hatte in einem Zeitungsinterview von einer "Lösegeld-Erpressung" der Schweiz durch jüdische Kläger gesprochen.

Bereits seit Mitte der neunziger Jahre hatte sich der Antisemitismus auch außerhalb der recht marginalen rechtsextremen Subkultur breit gemacht. Jan van Helsings verschwörungstheoretisches Buch "Geheimgesellschaften" avancierte in esoterischen Kreisen der Schweiz zum Bestseller. Auch die theosophische Sekte Universale Kirche sowie das ihr nahestehende esoterische Magazin ZeitenSchrift verbreiteten wiederholt antisemitische Artikel und Aufrufe. Erst die Aufklärungsarbeit einiger Journalisten und der internationale Druck führten zu einer öffentlichen Diskussion und schließlich zu Strafverfahren.

Erwin Kessler, Präsident des gelegentlich auch in Deutschland aktiven Vereins gegen Tierfabriken (VgT), scheint dies nicht zu beeindrucken. Er begann bereits vor Jahren seinen Amoklauf gegen das Schächten und verstieg sich zu immer heftigeren antisemitischen Beleidigungen, ohne daß sich seine AnhängerInnen von ihm abwandten. Im Gegenteil: Kessler brüstet sich, die Zahl der VgT-Mitglieder habe sich markant erhöht. Mittlerweile schreckt Kessler, zweitinstanzlich wegen Verstoßes gegen die Rassismus-Strafnorm zu 45 Tagen Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, nicht einmal mehr vor Lob für Rechtsextremisten und Holocaust-Leugner zurück.

In diesem antisemitischen Umfeld agiert und agitiert auch SD-Chef Rudolf Keller. Der 43jährige, der als Jugendlicher eine neonazistische Gruppe mitbegründete, steht aber auch einer Partei vor, in deren Reihen sich immer wieder militante Rechtsextremisten tummeln. Das Doppelgesicht der SD beschreibt der Journalist Jürg Frischknecht, kenntnisreicher Beobachter der Schweizer Rechtsextremisten-Szene, so: Offiziell gebe sich die Partei "vaterländisch-biedermännisch", doch dulde sie immer wieder auch "militantere Töne, von faschistoiden Aufräumparolen bis hin zu offenem Rassismus".

Im Herbst 1987 hatte das Bundesgericht bestätigt, daß die NA "zum Teil erschreckende Ähnlichkeiten zur nationalsozialistischen Lehre" aufweise. Die Partei legte sich daraufhin den neuen Namen Schweizer Demokraten zu und bemühte sich vermehrt um ein gesittetes Auftreten. Als Exponent dieser Image-Korrektur gab sich insbesondere Rudolf Keller, der seit rund zehn Jahren SD-Präsident fungiert.

Doch der innerparteiliche Konflikt ist noch nicht ausgestanden: In den vergangenen Wochen verließen im Kanton Basel-Stadt fünf der acht SD-Kantonsparlamentarier Fraktion und Partei. Es sei den Austretenden darum gegangen, so ein SD-Abtrünniger in einem Zeitungsinterview, "das Image vom braunen Kittel abzustreifen", das die Partei unter anderem auch wegen Keller und seinem Boykott-Aufruf besitze.

Denn dieser Aufruf zeitigt mittlerweile auch juristische Folgen: Freddy Rom, Journalist des Israelitischen Wochenblattes, erstattete Strafanzeige wegen Widerhandlung gegen die Rassismus-Strafnorm. Für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen eidgenössischen Parlamentarier wird allerdings die Aufhebung von dessen parlamentarischer Immunität benötigt. Zur Zeit ist noch unklar, ob SD-Präsident Keller vor den Richtern erscheinen muß.

Zwar hat vergangene Woche der 200köpfige Schweizer Nationalrat zum zweiten Mal die Aufhebung der Immunität beschlossen. Doch muß in den nächsten Monaten auch noch die kleine Kammer des Parlaments, der Ständerat, über die Immunität Kellers entscheiden. In einem ersten Entscheid hatte der Ständerat die Immunität des Parlamentariers Keller aufrechterhalten. Der Entscheid könnte knapp werden. Es gibt Indizien dafür, daß sich einige ständerätlichen BefürworterInnen von Kellers Immunität in der nächsten Abstimmung nicht mehr für den Boykott-Aufrufer erheben werden. Bejaht der Ständerat aber auch bei der zweiten Abstimmung Kellers Immunität, so wird der antisemitische Appell unbestraft bleiben.

Dies versuchen mehrere antirassistische Organisationen zu verhindern: In den vergangenen Wochen haben sie mit Briefaktionen bei den ParlamentarierInnen für die Aufhebung von Kellers Immunität Druck gemacht. Auch verschiedene Exponenten der Schweizer Judenheit kritisierten den Entscheid des Ständerates heftig. Rolf Bloch, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, zeigte sich "bestürzt und besorgt, weil das falsche Signal gesendet wurde, daß in der Schweiz Minderheiten diskriminiert und zum Boykott gegen sie aufgerufen werden darf, wenigstens wenn man Parlamentarier ist".

Die Anhängerschaft der SD scheint weder der öffentliche Druck auf Keller noch der partei-interne Konflikt zu kümmern. Im Gegenteil: Bei den Landratswahlen vor knapp zwei Wochen in Basel-Land konnten die Schweizer Demokraten zwei Mandate hinzugewinnen.