Alternative Lebensformen

Plötzlichkeit

Ich kenne Albert jetzt schon seit zehn Jahren, weiß jedoch nur wenig über ihn. Er ist ein Schweiger, ist katholisch und mindestens so altmodisch wie sein Name. Er lebt in einer gut verfugten Welt aus Studium, Computerspielen und stetigem Bierkonsum. Und just aus einer Kneipe war er auch gekommen, in jener Nacht, als er die Welt gewaltig bedroht fand.

Allerdings war er, wie er versichert, nicht betrunken, im Gegenteil, ihm war nicht wohl gewesen, und aus einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Schicksalsgefügtheit heraus entschied er sich, einen Nachtspaziergang zu machen. Er ging um seinen Wohnblock herum, dann um den zweiten, und während er die Stille genoß und die ersten Vögel zwitschern hörte, hatte er wohl schon drei, vier Kilometer zurückgelegt.

Da stand er dann. Zuerst, sagt Albert, sei er ihm gar nicht aufgefallen, doch je näher er kam, desto mehr zog der Stuhl Alberts Aufmerksamkeit auf sich. Dabei war es kein besonderer Stuhl, es war ein schlichter alter Holzstuhl. Ein Stuhl ohne Bezüge, roh, ideal zum Drauf-in-der-Küche-Fläzen oder fürs Kaugummidrunterkleben.

Nein, die Besonderheit des Stuhles ging nicht von ihm selbst aus, sondern von seiner Umgebung: Er stand nicht, wie für Sperrmüll üblich, im Hauseingang oder am Straßenrand, sondern mitten auf dem Bürgersteig - und die Bürgersteige sind in Berlin bekanntermaßen so breit, daß selbst zu Stoßzeiten Lkws drauffahren können, ohne mehr als fünf Passanten zu töten. Nun, der Stuhl jedenfalls stand so da und - sofern ein Stuhl das kann - lümmelte sich in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. Ansonsten war die Straße leer. Albert sah sich um, doch nirgendwo war ein Umzugswagen zu sehen. Keine Haustür stand offen. In keiner Wohnung war Licht. Zusammenhänge waren nicht herstellbar.

Albert schaute den Stuhl an, aber das Bild machte keinen Sinn. Daß jemand den Stuhl vergessen hatte, war genauso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, daß ihn jemand hier mit Absicht hingestellt hatte. Ersteres kam nicht in Frage, wo doch der Stuhl zu deutlich in der Mitte von allem stand, letzteres nicht, weil so ein Stuhl in Berlin binnen Stunden geklaut worden wäre. Albert war demnach mit einem fetten Stück Plötzlichkeit konfrontiert.

Noch einmal beäugte er den Stuhl. Er mußte handeln. Darum setzte er sich auf den Stuhl und wartete. Nichts geschah. Er wartete eine Viertelstunde. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Wohnungen blieben unbeleuchtet, die Türen verschlossen, die Straße verlassen. Selbst die Vögel piepten, als sei nichts geschehen.

Mit einem Mal hatte er das Gefühl, sich zum Narren zu machen. Schnell stand Albert auf und ging davon. Doch ihm blieb unheimlich. Selbst gestern, als er mir die Geschichte erzählte, war er äußerst aufgeregt. "Die Werke des Teufels sind unergründlich", sagte er und sah sich plötzlich um.