Analyse eines Wurms

Die Party ist vorbei, der Bulle steht vor der Tür. "Trainspotting"-Autor Irvine Welsh fragt in "Filth" nach den Ursachen von Gewalt

Ob Drogen zerstören oder befreien? Ob die Einnahme gewisser Rauschmittel unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen eher subversive oder lediglich betäubende Wirkungen zeitigt? Solche Fragen rankten sich um Irvine Welshs Debütroman "Trainspotting", der 1993 auch als Manifest einer chemical generation und eines damit verknüpften "proletarischen Hedonismus" (Collin/Godfrey) gelesen wurde.

Der locker gefügte Roman um eine Clique junger Junkies in Edinburgh jedenfalls zeigte dem repressiven und dem sozialtherapeutischen Drogendiskurs gleichermaßen den Stinkefinger und verkaufte sich in den drei Jahren nach seinem Erscheinen mehr als eine halbe Million Mal. Als anschließend der Film in die Kinos kam und die Pädagogen Alarm schlugen (obwohl der Film alles ziemlich glattbügelte), spitzte sich die große Debatte im Vergleich der suggestiven Bilder zu: Kickt Heroin zwanzigmal so heftig wie dein bester Orgasmus, oder tunkt dich das Zeug in eine drecküberkrustete Kloschüssel?

Wegen der innigen Verbindung von Raves und Ecstasy, das Welsh im Gegensatz zu Heroin privat und auch in seinen Folgewerken stark befürwortete, waren Drogen damals überall ein großes Thema. Der immense Erfolg des Films tat ein übriges, Welsh der entsprechenden Szene zuzuschlagen, während seine Qualitäten als Autor im technoiden Taumel um Tanz und Tabletten ein bißchen vernachlässigt wurden. Inzwischen hat sich die Aufregung insgesamt gelegt; die Menschen haben sich an Partydrogen gewöhnt und erwarten von ihnen wohl keine politischen Bewußtseinsschübe und sozialen Liebeswellen mehr. Trotzdem braucht man immer mal Mittel, die einem durch die "lange dunkle Nacht des Spätkapitalismus" helfen - dieses Bedürfnis haben jedenfalls Welshs sympathischere Charaktere in bislang zwei Erzählungsbänden und zwei Romanen überzeugend ausgedrückt.

Von der Jugendkultur jedoch, in die dieser Habitus über die Bücher hinweg eingebettet war, koppelt sich der dritte Roman "Filth" thematisch ab: Die Party ist offenkundig vorbei.

Fiese Typen aber haben immer Hochkonjunktur und nehmen heutzutage auch Drogen. Detective Sergeant Bruce Robertson, der Held in "Filth", ist so einer. Dieser egomanische Polizeiwachtmeister, ein bekennender Rassist und Frauenfeind in Wort und Tat, nutzt alle ihm vom Staat zur Verfügung gestellten Möglichkeiten, seine vielfältigen Sadismen auszuleben; er ist ein Bulle, wie man ihn sich vorstellt, allerdings um etliche Nuancen berechnender und intelligenter.

Robertson besitzt ein reflexiv abgefedertes Bewußtsein, das seine Untaten unter Verweis auf evolutionäre Notwendigkeiten zu rechtfertigen weiß. Der von ihm durchzusetzenden Drogenpolitik kann er, auch wenn sie im Widerspruch zu seiner eigenen Vorliebe für Koks steht, mit Hilfe eines Hauptarguments reaktionären Denkens doch noch eine gute Seite abgewinnen: "Still, it serves its purpose and keeps the cunts in a constant state of terror and alienation and reminds them that this world was not made for them, it was made for us."

Dieser Cop, ein begeisterter Heavy Metal-Konsument, bekommt in den Vorweihnachtswochen den Auftrag, dem brutalen Mord an einem jungen Schwarzen in der Innenstadt von Edinburgh nachzuspüren. Leider kann man die Sache nicht unter den Tisch kehren, da es sich bei dem Ermordeten um den Sohn des ghanaischen Botschafters handelt und überdies die New Labour-Kommunalpolitik den benachteiligten Minderheiten ein paar nominale Zugeständnisse schuldet. Infolgedessen bekommt die Abteilung ein paar Lehrgänge in integrativem Verhalten verordnet.

Diese Antirassismus-Seminare werden ausgerechnet von einer Frau, einer neuen Kollegin, geleitet - ein Grund mehr für Robertson, das Vorhaben und die Ermittlungen zu sabotieren. Allerdings geht das nicht allzu offensichtlich, da sich der ehrgeizige Sergeant gleichzeitig Hoffnungen auf eine Beförderung zum Inspector macht und trotz Urlaubssperre partout ein paar Tage in Amsterdam verbringen will, um Drogen zu kaufen und Prostituierte aufzusuchen - diese große Sause darf auf keinen Fall abgeblasen werden. Denn ihm ist auch noch seine Frau abhandengekommen, dafür hat er sich ein widerlich schuppendes genitales Ekzem zugezogen, und in seinem Darm lebt, wie sich bald herausstellt, ein Bandwurm. Dieser schottische Bulle hat Grund zum Schimpfen.

Die Haßtirade des Bruce Robertson erstreckt sich deshalb über fast 400 Seiten, und es könnte einem die Lust am Lesen vergehen angesichts der vielen Tausend schmutzigen Worte und niederträchtigen Gedanken, die sich durch den Text weben. Zu Beginn funktioniert das alles prächtig. Robertson ist ein korruptes Arschloch und linkt seine Kollegen, seine Nachbarn und die Frauen, mit denen er Würgesex und Analverkehr hat. Er hetzt die anderen Anwärter auf den Inspektorsposten aufeinander und nutzt dazu clever homophobe Ressentiments. Er trinkt unmäßig, schnupft konfisziertes Kokain, terrorisiert die Frau seines einzigen "Freundes" mit obszönen Anrufen, zwingt jugendliche Delinquentinnen zu sexuellen Handlungen und versucht sich u.a. als sodomitischer Pornofilmer.

"Filth" besteht nicht allein aus gesetztem Text, sondern ist zusätzlich mit pseudodokumentarischem Material - Behörden-Memos, Briefe, Zeitungsartikel - angereichert, das die monologische Geschichte beglaubigen soll. Schlüsselpassagen aus dem Drehbuchskript, das Robertsons Vorgesetzter heimlich über den laufenden Fall schreibt, sorgen überdies für die meta-textuelle Dimension. Wie schon in früheren Werken spielt Welsh aber auch mit der Typographie des Textes, am auffälligsten in den erzählerischen Passagen des Bandwurmes, der zweiten prominenten Stimme in "Filth", die den unaufhaltsamen Absturz des selbstgerechten Polizisten begleitet.

Welsh will seinen sich selbst demaskierenden Antihelden vollständig entblößen; deshalb schmuggelt sich der Bandwurm in den Text, nistet sich parasitär in der Ich-Erzählung Robertsons ein und überschreibt sie buchstäblich; der schlaue Bandwurm macht sich daran, seinen Wirt und dessen niedrige Beweggründe zu analysieren.

Da wird es dann leider hausbacken psychologisch - und am Ende des Romans rächt sich die Idee mit dem Bandwurm als verkörpertes Gewissen bitter. Denn wie der Wurm herausfindet, ist Robertson ein Produkt trauriger Umstände. Gezeugt wurde er bei der Vergewaltigung seiner Mutter durch einen irren Serienverbrecher, deshalb also haßte und quälte ihn der Vater. Als Kind hat er den Unfalltod des Bruders mitverschuldet, des weiteren wurde seine erste große Liebe von einem Blitz erschlagen - es ist ein wirklich unglaublich starker Tobak, den Welsh hier aufbietet.

Der Zusammenrottung von Klischees kann keine satirische Absicht unterstellt werden, dazu ist das gesamte Arrangement zu schulbuchmäßig ausgerichtet. Welsh will eben überdeutlich sagen, daß Gewalt stets Gewalt gebiert, und böse endet, wer Böses tut. Womöglich wäre das noch hinzunehmen, wenn die idiotische Mordgeschichte, die den Plot abgibt, nicht auf den letzten vierzig Seiten mit einem derart effekthascherischen Norman-Bates-Psycho-Transvestiten-Clou aufgelöst würde, daß einem die Haare vor Pein und Entsetzen steil zu Berge stehen. Hier haben wir's mal wirklich abgeschmackt, grell und billig!

Was an dem Roman trotz alledem Spaß macht, sind viele gelungene Episoden und vor allem die atemlose Stimme Welshs, der sein unflätiges Sprachmaterial zu meistenteils überzeugenden Typen- und Milieustudien zusammenzufügen versteht. Daß viele Bewohner dieses Planeten von grotesk fehlgeschalteten Macht- und Sex-Wünschen angetrieben werden, ahnte man zwar vielleicht schon; wie daraus aber im Alltag komplette Weltanschauungen und komplexe Handlungen entstehen, die dem gesellschaftlichen Gefüge insgesamt zu dienen vermögen, zeichnet Welsh in einer äußerst wütenden, rhythmischen Prosa nach, die nie um gespenstische oder ekelhafte Bilder verlegen ist.

Leute, die einem nahelegen, den einen oder anderen Autor doch unbedingt mal im Original zu lesen, sind natürlich eine dünkelhafte Pest aus den Dunstkreisen philologischer Seminare. Andererseits gibt auch Clara Drechsler, die Übersetzerin von "A Smart Cunt" und "Ecstasy", zu: "Bei Irvine-Welsh-Büchern ist es mit Sicherheit so, daß die Hälfte des Witzes im Deutschen verloren geht." Man sollte Welsh also tatsächlich am besten in seiner schottischen Gossensprache lesen.

Sein zweiter, noch nicht übersetzter Roman "Marabou Stork Nightmares" von 1995, der erschütternde Bericht eines komatösen Yuppies und Teilzeit-Hooligans, lohnt die Lektüre ganz besonders. Hier zieht Welsh alle Register seiner Kunst zu einem flammenden Appell gegen sexuelle Gewalt, anders als in "Filth" ist hier jedes drastische Wort ernstgemeint, und das jähe Ende des Romans schmeißt den vorhergehenden Text tatsächlich brutal aus der Bahn.

Damit verglichen, ist die Rollenprosa in "Filth" ein durchschaubarer Witz. "Ich wollte über jemanden schreiben, den ich zutiefst verabscheue und gleichzeitig einen Weg finden, mich in ihn hineinzuversetzen", bekannte Welsh in einem Interview. Diese Ambivalenz geht leider fast ungefiltert in den Text ein. Der Sieg der poetischen Gerechtigkeit im finsteren Finale wirkt deshalb wie herbeigefleht, wie eine Verlegenheitslösung, die die fiesen Typen davor warnen soll, ihre Probleme mit Drogen statt mit therapeutischen Mitteln in den Griff zu kriegen. Um Mißverständnissen aber vorzubeugen: In seiner ganzen schillernden Häßlichkeit und Unausgewogenheit ist auch "Filth" immer noch um Klassen besser als das meiste andere, was man zu lesen kriegt.

Irvine Welsh: Filth. Jonathan Cape, London 1998, 393 S., £ 9,99