Schlechtes Karma

Mit den Geldern, die ich auf meiner Konfirmation einsammelte, kaufte ich mein erstes eigenes Rad, das kostete 100 Mark und war ein echtes Damenfahrrad.

Vorher durfte ich nur das alte Rad meines Vaters benutzen, was sehr anstrengend war - immer mit dem einen Bein unter der Stange durch. Es sah auch bescheuert aus, besonders, wenn man einen Knicks machen mußte, weil man anderen Dorfbewohnern begegnete, und das passierte natürlich ununterbrochen, so daß man aus dem Knicksen praktisch nicht mehr herauskam.

Fahrradfahren war selbst in den noch autolosen Zeiten nicht nur nützlich, sondern konnte auch gefährlich sein. Die Nietenhose hatte ihren Siegeszug in der Damenwelt noch nicht angetreten, und so geriet der Rock - lange Glockenröcke waren sehr in Mode - nicht selten in die Speichen, was meistens einen Sturz, aber immer einen Riesenkrach zur Folge hatte, wenn man mit zerfetzten Klamotten zu Hause ankam.

"Frauen", behauptete mein Onkel, der lange im Fernen Osten gelebt hatte, "Frauen haben ein schlechtes Karma auf Geräte." Er spielte damit allerdings hauptsächlich auf unsere Herde, Kühlschränke und Toaströster an, die andauernd ihren Geist aufgaben und auch nicht wiederzubeleben waren, weil meine Mutter zwecks Einsparung von Handwerkern darauf bestand, sie selbst zu reparieren. Aber es paßte auch auf Großmutter, die ein Fahrrad zu besteigen pflegte wie andere Leute ein Pferd. Sie packte die beiden Griffe und hievte ihren Hintern auf den Sattel, während sich das Rad sozusagen in Ruhestellung befand.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon alle Nachbarn versammelt. Dann ging ein wildes Hin und Her des Vorderrades los, bis sie die Füße auf den Pedalen hatte. Die ersten fünf Meter fuhr sie Schlangenlinie. Jetzt wurde entweder heftig geklatscht oder ein Kind nach dem Erste-Hilfe-Koffer geschickt. Daß Großmutter nicht mehr als zweimal beim Auf-die-Fresse-Fallen ihren Oberschenkelhals gebrochen hat, grenzt an ein Wunder.

Großvater fiel fast ebensooft wie Großmutter von seinem Fahrrad mit Hilfsmotor, das er stolz "Moped" nannte und das ihm von der männlichen Dorfjugend sehr geneidet wurde, aber seltsamerweise passierte ihm nichts, außer daß er hier und da mit einer blutigen Nase heimkam. Die Elastizität seiner Knochen, erklärte er uns Kindern, beruhe darauf, daß er immer die angegammelten Reste der Leberwurst und die Dickmilch "mit Pünktchen drauf" aufesse, die wir verschmähten.

Selber Fahrradfahren ist ja okay und prima, aber daß die Leute das auch in Großstädten tun dürfen. In Hamburg fahren sie alle auf den Bürgersteigen wie die Wahnsinnigen; erst neulich hat mich ein Radfahrer beinahe umgefahren, und als ich einen Laut des Unmutes ausstieß, drehte er sich beim Weiterfahren um und zeigte mir den Mittelfinger. Kurz darauf traf ich den Kontaktbereichsbeamten und fragte ihn, ob das überhaupt erlaubt sei, auf dem Bürgersteig zu fahren und so. Sagt er, daß es keinen Paragraphen dafür gebe, "aber was nicht direkt verboten ist ... äh ... das ist nicht verboten". Klingt irgendwie logisch, aber wann hat Logik schon mal so richtig weitergeholfen? Jedenfalls nicht beim Radfahren.