Thanks, Think Tanks

Wie der Neoliberalismus über die Welt kam - Keith Dixons Studie über die "Evangelisten des Marktes" rekonstruiert den Einfluß britischer Intellektueller auf den Thatcherismus

Großbritannien hat den Kampf gegen das soziale Elend verloren. Zwölf Millionen Menschen, also ein Viertel der Bevölkerung, leben laut einem Ende März 1999 veröffentlichten Bericht des britischen Finanzministeriums "in einem Zustand relativer Armut". Damit ist die Legion der Armen heute dreimal größer als 1979, jenem Jahr, in dem Margaret Thatcher die Macht übernahm. Seit 1997 arbeitet nunmehr Tony Blair an einer aufgepeppten Version des Thatcherismus mit menschlichem Antlitz. Seine auf Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung ausgerichtete Politik orientiert sich an einem neoliberalen Einheitsdenken, das mittlerweile fast den gesamten Globus umspannt.

Wie in think tanks organisierte Anhänger dieser Ideologie dazu beigetragen haben, den bis Mitte der siebziger Jahre herrschenden keynesianischen Konsens zu brechen und Großbritannien in den achtziger Jahren zu einem Modell des real-existierenden Neoliberalismus zu machen, beschreibt Keith Dixon in seinem Buch "Les ƒvangelistes du marché. Les Intellectuels britanniques et le néo-libéralisme" ("Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Neoliberalismus").

Man müsse, so Dixon, "bis an die Ursprünge zurückgehen", um zu verstehen, "wie eine sehr begrenzte Zahl von intellektuellen Aktivisten" über die Köpfe "Tausender Parteimitglieder und Millionen von Wählern" hinweg "im Laufe einiger Jahre zunächst die politische Strategie der Konservativen Partei ändern und danach die Regierungspolitik radikal verwandeln konnte". Ausgehend von dieser These konzentriert sich Dixon zwar stark auf die Debatten der Nachkriegsgeschichte, doch es gelingt ihm, dabei nie deren komplexe Verbindungen mit den jeweiligen ökonomischen, sozialen und politischen Konjunkturen aus den Augen zu verlieren.

Am 26. August 1938 setzte sich in Paris eine Gruppe von dreißig Professoren und Journalisten zusammen, um zu beraten, wie ihren Hauptfeinden, dem faschistischen wie sowjetischen "Kollektivismus" und vor allem der neuen Doktrin des Keynesianismus, beizukommen sei, dessen Vorstellung ökonomischer Planung für sie der von einem totalitären Staat gleichkam. Sie entwickelten die Idee, ein internationales Zentrum zur Erneuerung des Liberalismus zu gründen. Knapp zehn Jahre später wurde dieser Gedanke Wirklichkeit.

Im April 1947 gründeten sie mit der bis heute existierenden Société de Mont-Pélerin das "Mutterhaus der neoliberalen think tanks" (Dixon). Zu den Teilnehmern gehörten neben dem schon in Paris anwesenden Friedrich August von Hayek eine Reihe später führender Vertreter des Neoliberalismus, etwa ein junger Professor aus Chicago namens Milton Friedman. Auf die Gründung der Société de Mont-Pélerin folgte, häufig initiiert oder unterstützt durch deren Mitglieder, der Aufbau einer Reihe vergleichbarer Einrichtungen. So entstanden das britische Institute of Economic Affairs (IEA) und die amerikanische Heritage Foundation, die bis heute zu den einflußreichsten Verfechterinnen einer "permanenten neoliberalen Revolution" (Dixon) gehören.

Detailliert zeichnet Dixon deren enge ideologische und personelle Verflechtung nach. So entsteht das Bild eines komplexen Netzwerkes, das mittels umfangreicher Publikationen zunächst speziell in den USA und Großbritannien einen immer größeren Einfluß auf die Vorstellungen vor allem politischer, wirtschaftlicher und journalistischer Kreise gewann. Dixon hütet sich jedoch vor der simplifizierenden Annahme, eine auf diesem Weg unter Meinungsführern hegemonial gewordene Idee setze sich kausal und linear in die politische Tat um.

Seinen praktischen Durchbruch habe der Neoliberalismus vielmehr erst der ökonomischen Krise der keynesianischen Länder Mitte der siebziger Jahre zu verdanken gehabt. Dessen Erscheinen verlief laut Dixon in Großbritannien um einiges spektakulärer als in den USA. Dies führt er darauf zurück, daß in den sechziger und selbst den siebziger Jahren noch viele von einer "britischen Ausnahme" ausgegangen seien. Angesichts einer mächtigen Arbeiterbewegung und einer ausgeprägten keynesianischen Tradition schien eine praktische Umsetzung neoliberaler Politik damals tatsächlich wenig wahrscheinlich.

Dies umso weniger, als die National Union of Mineworkers noch 1974 der erst vorsichtig liberal gewendeten konservativen Regierung unter Edward Heath eine vernichtende Niederlage beibrachte. Im selben Jahr erhielt allerdings der bereits erwähnte Nationalökonom von Hayek, ein Vertreter des Neoliberalismus, den Wirtschaftsnobelpreis (u.a für sein Werk "Individualismus und wirtschaftliche Ordnung").

Nach Einschätzung Dixons hinterließ die im gleichen Jahr folgende Wahlniederlage bei Teilen der Konservativen Partei ein solches Trauma, daß sie sich auf der Suche nach neuen Lösungen in bis dahin unvorstellbarer Weise den neuen "Evangelisten des Marktes" in die Arme warf. Diese Strömung habe fortan die gesellschaftliche Krise nicht länger als die der Familie, der Religion oder des Staates, sondern als Ausdruck der ökonomischen Krise betrachtet, genauer: als Krise des gegängelten Marktes, der sich nicht genügend entfalten könne.

Noch im selben Jahr gründete Keith Joseph, ein Vertrauter Thatchers, der später zum Industrie- und Bildungsminister berufen wurde, das Centre for Policy Studies (CPS), in dem fortan die neoliberalen Ideen des Institute of Economic Affairs in konkrete politische Vorschläge für die Konservative Partei übersetzt wurden. 1975 übernahm Thatcher den Parteivorsitz. Bis zu ihrer Wahl zur Premierministerin 1979 vernachlässigte der innerhalb der Partei von Thatcher repräsentierte und immer stärker werdende neoliberale Flügel klassische konservative Positionen und konzentrierte sich - im Gleichschritt mit den Denkern des IEA und CPS - auf die Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Priorität hatte nunmehr die Privatisierung staatlicher Dienste, die massive Einschränkung von Gewerkschaftsrechten, und ganz grundsätzlich die politische und moralische Rehabilitierung des in dieser Zeit zum Leitbegriff gewordenen Begriffs "Profit".

"Ohne Zweifel gab es seinerzeit kein Komplott im eigentlichen Sinne des Wortes", resümiert Dixon, "aber es gab sicherlich ein überlegtes und konkretes Vorgehen, das nach Jahren der Isolation und unfruchtbarer Arbeit schließlich von Erfolg gekrönt wurde." Umgeben von ihren aus den think tanks rekrutierten Beratern der Downing Street Policy Unit habe Thatcher ab 1979 jene Politik umgesetzt, die in den Jahren zuvor denkbar geworden war und in den Jahren darauf die Regeln des politischen Spiels sowie die sozialen Kräfteverhältnisse in England gravierend verändern sollte.

Hatten die Gewerkschaften 1974 noch gesiegt, so erlitten sie 1984/85 eine, so Dixon, "historische Niederlage". Nach neun Gewerkschaftsgesetzen, die zwischen 1980 und 1992 erlassen wurden, befinde sich deren rechtliche Situation nun wieder auf dem Stand von vor 1906. Dixon rekonstruiert, wie intellektuelle Vordenker mit ihren Ideen Einfluß auf das politische Handeln nehmen, indem sie sich organisierten und ihre Theorieschule institutionalisierten.

Der britische Arbeitsmarkt sei heute nicht zufällig "der am wenigsten reglementierte Europas", und die britischen Arbeitnehmer seien, was ihre Arbeits- und Anstellungsbedingungen angeht, nicht umsonst "die europaweit am wenigsten Geschützten". Die Thatcher-Regierung stürzte nicht nur die Gewerkschaften, sondern vor allem auch die Labour Party in eine tiefe Krise. Erst als Thatchers neoliberales Programm für Blair nicht nur denkbar wurde, sondern indem er es als "einzig denkbares" übernahm, so Dixon, habe er der Krise der Partei ein Ende gesetzt. An die Änderung der Gewerkschaftsgesetze denke er nicht einmal mehr, ließ Blair schon 1997 verlauten. Aussagen dieser Art sichern ihm seitdem regelmäßig die Unterstützung des 1976 gegründeten Adam Smith Instituts. Dessen Direktor hatte noch unter Thatcher berichtet: "Wir schlagen Sachen vor, die die Leute fast als puren Wahnsinn betrachten. Und im Handumdrehen werden sie fast zur Regierungspolitik."

Daran habe sich, so Dixon, bis heute unter Blair nicht viel geändert. Doch, so fügt er hinzu, sei das Denken heute auch einheitlich, so werde es doch längst noch nicht von allen geteilt. Allerdings arbeiteten think tanks fieberhaft daran, dies zu ändern. Mittlerweile überall.

Keith Dixon: Les Évangelistes du marché. Les Intellectuels britanniques et le néo-libéralisme.Editions Liber Raison d'agir. Paris 1998, 112 S., FF 30