Ethnology rules

Am heftigsten umworben und am meisten gehaßt: Im israelischen Wahlkampf werden die russischen Einwanderer zum entscheidenden Faktor

Es sind wohl mittlerweile an die 750 000 Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel gekommen sind. Betrachtet man es funktional, sind sie dort nun die Staatsbürger, um deren Stimme nur wenige Tage vor der Wahl heftig und von allen Seiten geworben wird.

Doch so einfach wollen es nicht alle sehen: "Priester, Prostituierte und Gauner" werden sie von Eli Suissa, dem derzeitigen Innenminister Israels und Mitglied der ultrareligiösen Shas-Partei, genannt. Der Partei der russischsprachigen Juden, Israel B'Aliyah, warf Suissa vergangene Woche vor, noch mehr "von diesen Verbrechern", die nicht einmal koscheres Fleisch zu sich nehmen würden, nach Israel holen zu wollen.

Auf Initiative von Premierminister Benjamin Netanyahu hat sich Suissa zwar mittlerweile wieder mit Nathan Sharansky, dem Parteichef von Israel B'Aliyah, versöhnt und eine öffentliche Entschuldigung abgegeben. Dennoch weist der Zwischenfall auf die Bedeutung der russischen Juden für den Wahlkampf in Israel und damit auch auf eine der Polarisierungen in der israelischen Gesellschaft hin. Die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion machen mittlerweile fast ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus, und ihre Zahl nimmt stetig zu.

Mit ihren nicht selten relativ hohen Bildungsabschlüssen und einigen wirtschaftlichen Aufsteigern in ihren Reihen konstituieren die russischen Juden eine Art von neuer Elite in Israel. Hinzu kommt, daß die meisten von ihnen sich nicht mehr mit den alten Spielregeln abfinden wollen: War es in den Jahrzehnten nach der Staatsgründung üblich, gleich nach der Einwanderung zu einem Israeli zu werden, also die eigene Herkunft hinter sich zu lassen, Hebräisch zu lernen und am Aufbau des Landes mitzuarbeiten, so haben die russischen Immigranten mittlerweile ihre Sprache und Kultur parallel zur israelischen Gesellschaft etabliert. Difference rules - und niemand stört sich daran. Inzwischen wird sogar diskutiert, Russisch neben Hebräisch und Arabisch zur Amtssprache zu erheben.

Über fünfzig Zeitungen erscheinen täglich in russischer Sprache, das israelische Fernsehen hat vor einigen Wochen begonnen, seine Sendungen mit russischen Untertiteln auszustrahlen: besonders am Sabbat, wenn religiöse Juden wegen der Vorschrift, an diesem Tag kein elektrisches Gerät zu bedienen, weniger zahlreich zum Publikum gehören. Denn unter den russischsprachigen Einwohnern, die im sowjetischen Nominalsozialismus wenig mit Religion zu tun hatten und auch in Israel an ihrer Sozialisation festhalten, finden sich nur wenige Juden, die treu und verbindlich zu den religiösen und traditionellen Gesetzen stehen.

Nach dem jüdischen Religionsgesetz gelten viele von ihnen gar nicht als Juden. Darauf wiederum weist insbesondere die Shas-Partei bei so gut wie jedem Anlaß hin: Jude sei nur, wer eine jüdische Mutter habe oder gemäß den orthodoxen Riten zum Judentum konvertiert sei. Da die Shas seit geraumer Zeit den Innenminister stellt, kann sie auch auf die Besetzung von Posten in den untergeordneten Behörden - sprich: den Einwanderungs- und Einbürgerungsämtern - Einfluß nehmen.

Die israelische Tageszeitung Ha'aretz berichtete in den vergangenen Wochen regelmäßig über Beschwerden von russischen Einwanderern, von "Beamten mit allen möglichen Schwierigkeiten behelligt" worden zu sein. Es komme vor, daß junge Männer aus der ehemaligen Sowjetunion zwar zum Militärdienst einberufen würden und damit die Anerkennung als israelischer Staatsbürger erhielten, schreibt die Jerusalem Post, doch würden gleichzeitig ihre Angehörigen abgeschoben.

Die Begründungen für die Ausweisungen sind unterschiedlich: Mal werden einfach nur vermeintlich fehlende Papiere vorgeschoben, mal wird der Stammbaum vom noch in den GUS-Staaten geehelichten Partner schlicht für gefälscht erklärt. Gegenüber der deutschen Wochenzeitung Die Zeit wies Israel B'Aliyah, Mitglied der Einwandererpartei, jedoch auf eine andere mögliche Erklärung hin: "90 Prozent der ehemaligen sowjetischen Staatsbürger glauben nicht an Gott." Dies muß zwangsläufig zu Konflikten mit denen führen, die zwar nur eine zahlenmäßig verschwindende Minderheit ausmachen, den politischen Diskurs in Israel aber entscheidend mitbestimmen: den Ultrareligiösen.

Die westlichen und vorderasiatischen Juden (Sephardim) unter ihnen wählen zumeist die Shas-Partei. Die ist mittlerweile zur drittgrößten Partei des Landes avanciert und hat gute Chancen, auch nach diesen Wahlen wieder an der Regierung, wie auch immer diese künftig aussehen mag, beteiligt zu werden. Ehud Barak, Netanyahus derzeit stärkster Konkurrent von der Arbeitspartei, hat es sich mit ihnen schon gründlich verscherzt: Seine Kampagne, nach der Ultraorthodoxe nicht mehr wie bisher von der regulären Wehrpflicht ausgenommen werden sollten, wurde im Februar vom höchsten Gericht des Landes aufgenommen und rechtlich umgesetzt: Thoraschüler müssen seitdem zur Armee.

Die religiösen Intellektuellen und Sephardim auf Baraks Liste können da kaum weiterhelfen. Yitzhak Mordechai, Premierkandidat einer Anfang des Jahres gegründeten Zentrumspartei, konnte hingegen schon den Segen des führenden Rabbiners der Shas-Partei, Ovadia Yossef, erlangen. Was nicht zuletzt auf Mordechais Herkunft zurückzuführen ist - er ist der Sohn irakischer Einwanderer. Hinzu kommt, daß er der einzige Sephardim ist, der an der Spitze einer größeren Partei steht. Die Ethno-Karte sticht auch in Israel. Die Aufkleberkampagne seiner Arbeitspartei - Motto: Ehud, führ uns aus dem Libanon - nutzt Barak dabei wenig.

Der israelische Politologe Ilan Greilsammer sprach jüngst in der französischen Tageszeitung Le Monde von einem "Netanyahu-Phänomen". Obwohl der Premier in den drei Jahren seiner Amtszeit außenpolitisch durch seine Blockade des Friedensprozesses Israel weitgehend isoliert habe und steigende Arbeitslosigkeit sowie verschiedene politische Affären seine Innenpolitik in ein schlechtes Licht rücken würden, finde er immer noch eine erstaunlich breite Unterstützung bei großen Teilen der Bevölkerung. Greilsammer kommt zu dem Schluß, daß diese Popularität von vier gesellschaftlichen Gruppen, die alle dem "historischen Israel" entfremdet seien, getragen werde: den Sephardim, den Ultraorthodoxen, den Einwanderern aus der Ex-Sowjetunion und schließlich den national-religiösen Gruppen.

Doch zumindest bei den russischen Einwanderern dürfte die politische Sympathie mittlerweile geteilt sein. Neben Israel B'Alija, die in der jetzigen Koalition unter Netanyahu bereits zwei Minister stellt, hat sich nun noch eine zweite Partei der russischen Einwanderer gegründet: "Unser Haus Israel" (in Anlehnung an die Moskauer Partei von Viktor Tschernomyrdin) wurde jüngst von Avigdor Lieberman, der es auf das künftige Erziehungsministerium (in welchem Kanbinett auch immer) abgesehen hat, neu in die Wahllisten eingetragen.

Obwohl Lieberman bislang Netanyahu recht nahestand und die Partei aus der religiösen Meimad-Bewegung hervorging, stehen zur Zeit die Differenzen zur Regierung Netanyahu im Vordergrund: In ersten Stellungnahmen wurde die diskriminierende Behandlung russischer Einwanderer durch "religiös motivierte Beamte" scharf kritisiert. Zwar darf sich Netanyahu freuen, daß weder sein Name noch der seiner Koalitionäre der Shas-Partei genannt wurden. Doch die Hoffnung auf viele Stimmen ist erstmal dahin.