Notwendige Absonderungen

Der außenpolitische Sprecher der CDU, Karl Lamers, fordert eine Neuordnung der Grenzen auf dem Balkan

"Hunderttausende Menschen leiden - hunderttausend Gründe, Europa sicherer zu machen" lautet das aktuelle Motto der CDU für die Europa-Parlamentswahlen Mitte Juni. Je größer das Leiden auf dem Balkan, desto stärker muß sich die Europäische Union davor sichern? Die unfreiwillige Doppeldeutigkeit des Slogans ist den christdemokratischen Wahlkämpfern vermutlich erst gar nicht in den Sinn gekommen.

Doch zumindest nach Meinung des außenpolitischen Sprechers der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, gibt es für "die demokratische Grundidee" keine einheitliche Basis in Europa. Diese könne zwar in seinem "festen Kern", dem Zentrum von Europa, gelten. An der Peripherie, auf dem Balkan etwa, müßten jedoch andere Maßstäbe angelegt werden.

Diese Grundzüge einer konservativen Europapolitik wurden vergangene Woche in einem gemeinsamen Papier von Lamers und dem CDU-Vorsitzenden Wolfang Schäuble vorgelegt. Unter dem Titel "Überlegungen zur europäischen Politik" heißt es darin, daß ein "handlungsfähiges und demokratisches Europa" im wesentlichen auf einem "festen Kern" aus Deutschland und Frankreich beruhe. Beide Länder waren die treibende Kraft bei der Entstehung der Währungsunion. Mit dem Stabilitätspakt von Maastricht habe man die entscheidende Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Union geliefert.

Der wirtschaftliche Erfolg müsse jetzt dringend durch einen "außen- und sicherheitspolitischen" Teil ergänzt und endlich der europäische Pfeiler der Nato geschaffen werden, fordern Lamers und Schäuble. Die Erfahrungen aus dem Kosovo-Krieg, so die Verfasser, unterstrichen diese Notwendigkeit dramatisch.

Wie diese künftige Außenpolitik für den Balkan aussehen könnte, machte Lamers letzte Woche im deutschen Bundestag klar. Seiner Ansicht nach sind die Bewohner der Balkans nicht in der Lage, die universalistischen Werte von Kern-Europa zu teilen. Ethnisch heterogene Staaten seien dort nicht überlebensfähig, da die jeweiligen Bevölkerungsgruppen sich gegenseitig haßten. "Das multiethnische Kosovo wie auch das multiethnische Ex-Jugoslawien gab es nur unter Druck, also undemokratisch", erklärte er vergangene Woche im Parlament. Die westlichen Demokratien könnten die Balkanvölker daher nicht zum Zusammenleben zwingen, da auf dem Balkan die "Erfahrung des anderen als Bedrohung empfunden" werde. Deshalb seien die "Absonderungen zwingende Notwendigkeit".

Wie sinnvoll diese "Absonderung" sein können, zeige sich nach Ansicht Lamers an der Gründung Sloweniens und Kroatiens. Denn dort seien die Nationalitätenprobleme beispielhaft "gelöst" - auch wenn dafür die Vertreibung von 300 000 Serben aus der kroatischen Krajina hingenommen werden mußte. Sobald der Krieg in Jugsolawien zu Ende ist, dürfte diese Auffassung eine neue Qualität bekommen: Sollte eine Aufteilung des Balkans nach ethnischen Kategorien erfolgen, würde kaum eine der bisherigen Grenzen Bestand haben.

Die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens könnte dabei durchaus als Vorbild dienen. Deutschland hatte 1991 die Souveränität der ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens - gegen den Willen der übrigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat - forciert. Bereits einen Monat, bevor die restlichen EG-Staaten dem Kurs des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher folgten, erkannte die Bundesrepublik die nördlichen Republiken als unabhängige Staaten an: schon damals unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

So könnte die Parzellierung Rest-Jugoslawiens nach ethnischen Kriterien weitergehen. Denkbar wäre ein Anschluß der im Norden Jugoslawiens gelegenen Provinz Vojvodina an Ungarn. Das Kosovo könnte sich mit Albanien vereinigen. Die unterschiedlichen ethnischen Regionen der Republik Bosnien-Herzegowina könnten sich Kroatien und Serbien anschließen, während die verbleibende muslimische Bevölkerung eine islamische Republik Bosnien-Sandjak gründet. Für Lamers durchaus denkbar, da die Bewahrung der staatlichen Einheit von "Kunstprodukten" wie Bosnien-Herzegowina, so der CDU-Mann im Bundestag, "eine jahrzehntelange Präsenz vor Ort erfordern" würde. Nichts für Lamers: "Dazu sind wir nicht verpflichtet. Niemand muß mehr, als er kann."

Daß die staatliche Selbständigkeit einer Nation kulturell begründet wird, findet zumindest bei Teilen der Konservativen Zustimmung. Ihrer Meinung nach können an den Balkan wegen seiner "kulturellen Andersartigkeit" nicht die Maßstäbe des restlichen Europas angelegt werden. "Geographisch ist der Balkan Europa, kulturell und politisch eher nicht", schrieb beispielswiese Alexander Gauland, Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung, vor kurzem in einem Gastkommentar in der Welt. Daher wäre eine vom "Westen dominierte Balkankonferenz, die eine Lösung oktroyiert", nur dann sinnvoll, wenn "die Völker selbst ihre Interessen definieren. (...) Raum- und kulturfremde Mächte werden kaum einen Einfluß darauf haben können." Zwar ist diese Haltung selbst in der CDU-Fraktion nicht unumstritten - der CDU-Außenpolitiker Karl-Heinz Hornhues etwa rät zu "extremer Vorsicht" bei neuen Grenzziehungen. "Wir können nicht so einfach runter von der Forderung, daß Mehrheit und Minderheiten zusammenleben", sagt er.

Doch Lamers ist sich seiner Sache sicher, wie er gemeinsam mit Schäuble in "Überlegungen zur Europäischen Politik" klarstellt: "Deutschland hat immer seine nationalen Interessen vertreten - ohne das Wort dauernd im Munde zu führen - und es war ungewöhnlich erfolgreich damit - für manchen fast zu sehr."